Die Waffe Sex

Ja, ich wollte es wissen. Ich wollte das Gefühl kennen. Sex hat schon so manches zerstört, Sex war eine Waffe. Sex war mächtig und ich wollte diese Macht erleben. Natürlich war es enttäuschend. Es tat weh. Furchtbar sogar, aber nur fünf Minuten lang, danach fühlte es sich so an als würde ich mir ein Tampon raus- und reinschieben. Keine Euphorie. Keine Ekstase. Ihm gefiel es und ohne Rücksicht auf meine Empfindungen rammte er es rein und raus. Egal. Danach sah ich ihn nie wieder. Es war aber einfach sich damit abzufinden, dass irgendwer, von dem du nicht mal mehr den Namen weißt, deine Unschuld geraubt hatte. Ich betrachtete es einfach so, dass ein unbedeutender Mensch mein schlechtestes Mal erlebt hat und nur die guten Male die waren, die zählten.

Aber etwas war in dieser Nacht mit mir geschehen. Denn bis dahin interessierten mich Männer nur bedingt. Sie mussten mir gefallen, eine enorme Ausstrahlung haben und ziemlich cool drauf sein, ehe ich nur mit ihnen knutschte. All das änderte sich nach meiner Defloration. Das erste Mal Sex ist meist ein Fehlschlag, aber das zweite Mal kam der Absolution schon etwas näher. Man könnte sagen, ich kam auf den Geschmack und danach war ich kaum noch in Zaum zu halten. Ich begann Sex zu haben. Mit wem auch immer. Solange ich ihn cool oder hübsch fand, gab es für mich kein Hindernis. Ich liebte Sex und ich war auf der gierigen Jagd nach meinem ersten Orgasmus.

Ich schlief sicher mit zehn Personen, ehe mein erster richtiger Freund mir etwas abverlangte, nachdem ich schon so sehr verlangte. Manchmal, vor allem dann, wenn man sich mit seinem eigenen Körper noch nicht so gut auskennt, braucht es seine Zeit, ehe man das Ziel erreicht. Ansonsten war mein erster Freund nicht sonderlich erwähnenswert. Er beschaffte mir den ersten Orgasmus. Das war´s. Nicht mehr. Nicht weniger. Er war ein Weichei. Er war zu einfühlsam, zu nett, zu nachsichtig. Zu dem Zeitpunkt wusste ich natürlich nicht was ich genau wollte, aber bei ihm merkte ich, dass es das nicht war. Also beendete ich die Sache nach einer Weile. Er war fix und fertig, aber hätte er gewusst wie es in mir aussah, hätte er um nichts in der Welt getauscht. Wenn er es nicht war, wäre ein Leben zu kurz um den Richtigen zu finden. Ja, so dachte ich mit Siebzehn. Wahrscheinlich gehörte ich zu jener seltenen Fraktion, die so was wie Zukunftsängste oder so hatte, jedenfalls glaubte ich ab da allein zu sein. Das hatte nichts mit Alleinsein zu tun, sondern mit Einsamkeit. Schnell mal hatte ich den nächsten Freund, den ich auch gern hatte. Scheiße, ich mochte ihn wirklich. Es war wirklich ein netter Kerl. Ihm Weh zu tun war nicht leicht. Natürlich schaffte ich es nach ungefähr einem Jahr.

Ich schien wohl schon so versaut zu sein. Das normale Schlussmachen, indem man erklärt was passt und was nicht, schien in dem Moment gar nicht zu existieren. Es gab nur Hass und Liebe für mich. Natürlich wollte ich ihn die Bahnen des Hasses leiten, indem ich ihn betrog und es ihm danach ausführlich erzählte. Ich glaubte der Hass würde es ihm einfacher machen mich zu vergessen und schnell eine neue Richtung einzuschlagen. Dem war nicht so. Eine miese Retourkutsche. Ein Jahr lang war er völlig fertig. Wie genau, kann man gar nicht sagen. Er war einfach nur völlig anders als sonst, und das setzte mir zu. Es setzte mir ziemlich zu, aber erst nach einem Jahr. Ja, ich brauchte so lange um zu merken was für einen Scheiß ich fabriziert hatte. Oh ja, es fing an richtig weh zu tun. Die Schuld, diese bittere Schuld. Es wäre sicher nicht so schlimm gewesen, wenn ich seine Sicht nicht gekannt hätte. Aber ich wollte es so. Immer wieder traf ich mit ihm, um am neuesten Stand zu bleiben. Wie sehr ich mir gewünscht hätte, dass er mir von einer neuen Liebe erzählen würde. Es kam nicht dazu. Stattdessen erklärte er mir, was er damals verloren hatte, als das mit uns in die Brüche ging. Die Hoffnung, das Vertrauen und schier jede Emotion zerfiel. All das was ihn glücklich zu machen schien, war nur mehr ein Schatten in dumpfem Licht.

Ich war ein Zerstörer. In all meinem Egoismus hatte ich einem Menschen etwas genommen, dass er sich nur schwer wieder beschaffen kann. Möglicherweise nie mehr, aber bei all meinem Pessimismus ließ ich die Schwarzmalerei eigentlich nur bei mir selbst zu. Es dauerte doch tatsächlich ein Jahr, ehe die Tränen zu fließen begannen, die all die Schuld wegschwemmen sollten, welche viel zu spät viel zu nachdrücklich aus mir rausquoll. Ab da glaubte ich erst Recht, keine Begabung für Zwischenmenschlichkeit zu haben. Schon gar nicht auf amouröser Basis. So beließ ich es auf Sex. Das war soviel einfacher. Aber Sex allein saugt dich aus. Der Körper wird ja eigentlich als Verpackung gesehen. Die Hülle des Menschen. Der Mantel. Die Präsenz. Zuviel Sex saugt all den Inhalt auf, bis du gar nicht mehr von einer Hülle sprechen kannst. Denn was ist schon eine Verpackung ohne Inhalt. Müll, nicht mehr. Sex allein war wie ein schwarzes Loch, dass nur Leere hinterlässt. Du bist an keinem einzelnen mehr interessiert. Sie sind vielleicht witzig, intelligent, vielleicht sogar interessant, aber all das verblasst gleich wieder, und ihre Gesichter verschwimmen wie der Gedanke daran. Wie viele wohl mit mir geschlafen hatten und jetzt keinen Weg in mein Gedächtnis finden. Bestimmt einige. Ich schlief mit etlichen Burschen. Was für ein Mädchen mit Intelligenz, Witz und einer brauchbaren Figur nicht sonderlich schwer ist. Das nun wirklich nicht. Ich war auf der Suche nach etwas Neuem. Nur leider hatte ich keine Ahnung was, wo und wie ich suchen sollte. Es sollte mich begeistern. Ich sollte mich immer wieder danach sehnen.

In diesem Zustand ein wildes Leben zu führen ist eine einfache Art weiterzumachen. Man verfällt dieser benebelnden Welle, die dich mal da und mal dort hin treibt, und wenn man mal nicht an bessere Ufer gespült wird, bleibt einem immer noch die Ablenkung von den Dingen, die einem eigentlich nur Schmerz bereiten. So kann man auch denken, wenn man jung ist. Ein Leben lang. Jedoch half es nichts. Der Sex mit irgendwelchen Burschen, die mir einen Abend lang ganz gut gefielen, brachte keine Freude, nicht mal Leid. Es wurde mir schlichtweg gleichgültig. Der Reiz war ausgelastet. Ich wusste gar nicht mehr wohin mit mir. Was ich allerdings wusste, ich musste wirklich mal innehalten und über mich selbst nachdenken, um mich nicht für alle Zeiten im Kreis zu drehen. Man verfällt dann erst recht in ein Tief, weil man gar nichts mehr hat, auf das man sich irgendwie freuen kann. Denn mit dem Sex verschwand auch die Lust abends durch Bars und Kneipen zu ziehen. Nein, nicht die Lust daran verschwand, ein bisschen vielleicht, aber es war Nachsichtigkeit. Mit einigem intus bekommt man wieder Bock auf Sex und denkt nicht darüber nach ob das nun gut für einen ist. Ich wollte mir die Verlockung ersparen.

Allein in meinem Zimmer hat genügend Zeit mich um mein kaputtes Ich zu sorgen und es war kaputter als ich angenommen hatte. Es war sogar richtig im Arsch. Zuhause saß ich vor dem Fernseher, vorm PC oder vor den Comics, die ich zeichnete, und betrank mich. Manchmal bekiffte ich mich auch bis zum Umfallen. Hälfte, Hälfte, könnte man sagen. Was hatte ich zwischendurch doch für ein scheiß Leben. Alles was mir wichtig war, war immer nur die Liebe gewesen. Aufrichtige Liebe als Erfüllung. Darin hatte ich lange kein Problem gesehen, bis ich einsehen musste, dass es gar nicht so einfach ist, sich in jemanden zu verlieben. Es gibt immer etwas, dass man am anderen hasst, aber ich schaffte es nicht mal die Schwächen zu tolerieren. Lag es an mir? War ich beziehungsgestört? Hatte ich einfach noch keine Liebe gefunden? Oder war ich einfach ein kaputtes, ignorantes Arschloch? Dass es irgendwo an mir liegen musste, war mir klar, denn niemand hasst sich jeden Abend beim Schlafengehen, der völlig normal im Kopf ist. Und ich hasste mich. Jeden einzelnen Tag mehr und mehr. Immer tat ich den Menschen weh, die sich mir auf eine Art und Weise öffneten, wie es nur Verliebte für gewöhnlich pflegten. Wenn ich zuhause saß, völlig betrunken, und aus meinem Fenster starrte, kam die Verzweiflung hoch. Wieso konnte ich mich nicht ebenso einfach verknallen und treiben lassen wie so viele meiner Freunde? Warum ist jede Berührung wie ein lähmender Impuls für mich. Welch schrecklich schwarzes Herz pocht in dieser Brust! Es fühlte sich manchmal so an, als hätte ich meine Seele an den Teufel verkauft und manchmal glaubte ich auch, das hätte ich getan. Aber irgendwo war ich doch noch immer das Mädchen, das wie gespannt vom Leben, die Ameisen bei ihrer regen Arbeit beobachtete. Das Mädchen, das voller Freude die erste Luft, die nach Schnee duftete, in sich aufsog. So war ich aber auch das Mädchen, dass schon so manchem Burschen bei oraler Arbeit beobachtete und so manchen THC-Duft in sich aufsog. Das klingt vielleicht etwas ambivalent, aber das war es nicht. Das Kind blieb erhalten, sowie die kindliche Neugier, aber genau die kann dir deine eigene Hölle erschaffen. Ich war noch nicht in der Hölle, aber auf dem besten Weg dahin. Ich fing an morgens aufzustehen und nicht mehr zu wissen warum eigentlich. Jeder Tag wurde leerer und sinnloser. Ja, ich glaube der Mensch braucht Emotion. Das ist die treibende Kraft und wie sie für einige selbstverständlich ist, ist sie für einige kaum erschwinglich. Das ist wie mit dem Wasser. Ich hatte völlig verlernt was Gefühl heißt, weil zuviel meiner Seele einfach verrotten ließ. Ein gewichtiger Teil meiner Seele war verkümmert, weil er nie genährt wurde.

Als ich dies erkannte, fing ich an loszulaufen. Ich lief und lief, bis zu einem Ort an dem ich mich selten zurückzog, wenn ich mich abgeschottet von der Welt wie in einer Seifenblase aufhalten wollte. Es war eine kleine Klippe in einem Waldstück, dass kaum ein Mensch besuchte. Keiner ging an den Rand der Stadt. Aber Menschen, die es von Kindesbeinen an gewohnt sind, von der schöpferischen Natur umgeben zu sein, suchen und gieren danach. Das war meine Befriedigung in dieser großen, kalten Stadt, für die ich auch einiges an Sympathie hatte. Ich mochte Städte, aber ich brauchte nun mal auch den Duft von Gras und Fichten. Ich brauchte regungslose Stille und nicht das rege Treiben einer Stadt, die das Privileg nicht genoss einfach mal inne zu halten. Das Leben in einer Stadt eröffnete mir die Möglichkeit mich als Kunststudent und Comiczeichner zu etablieren. Ja, so weit war ich nun. Aber es ließ Platz für die Seelen zerfressenden Orgien der Nacht, denen ich so oft erlag. Wie oft wachte ich neben jemanden auf, dessen Namen ich nicht kannte. Und auch wenn sich meine Eltern nicht weiter um mich scherten, so wären sie entrüstet darüber wie viel Lines Koks ich in diesem einem Jahr schon in mich aufgesogen hatte. Jedes Aufwachen hatte einen Hauch mehr depressiver Wehmut in sich. Ein Verlangen nach etwas Unerreichbarem. Und im Unerreichbaren liegt die Tragik. Was bringt es einem nach etwas zu streben, das unerreichbar ist. Oftmals weiß man ja gar nicht was die Absolution ist, denn oftmals glaubt man nur es zu wissen. Ich glaubte, es sei die Liebe, aber Liebe zu finden schien mir unmöglich. Ich hatte schon Hunderte von Burschen kennen gelernt und etliche davon gefickt, aber nie war etwas dabei, das mir den Atem stocken ließ. Keiner, der mich restlos einfing.

Allein mit der Leere, in einer großen Stadt, die keine Zeit für Gefühle ließ. Ich wollte mit allem reinen Tisch machen. Kennt ihr das Video "Starfuckers Inc." von den Nine Inch Nails. Da hat Trent Reznor auf ziemlich schnittige Art und Weise mit seinen Dämonen, die ihm so einiges zunichte machten und ihm die Seele gestohlen haben, abgerechnet. Es war wohl Liebe und Zuneigung die Antriebskraft, die ihn dazu bewegte, aber das liegt im Ungewissen. Was ich damit sagen will, man kann es einem auf ziemlich coole reindrücken, was dazu beitrug eine derartig entfremdete Person seiner Selbst zu werden und dieses Grauen rächend von sich zu schlagen. Und es war mal wieder Zeit für mich! Aber wie tut man dies ohne Perspektive. Ich wollte großer Zeichner werden. Ich war auf dem besten Weg. Ich wollte Emotionen und Liebe. Wo verkroch sich all dies? Nichts davon war in meinem Innersten zu erkennen. Und weshalb? War ich kalt und hart geworden, weil mich die Pein und der Hass aufgefressen hatte? Ich wusste es nicht. Noch nie war ich ein Suchender gewesen. Ich ließ mich emotional immer lieber finden, oftmals verkroch ich mich auch davor. Was also sollte ich tun? Immer schon ließ ich den Impulsen Überhand, warum also nicht auch in liebestechnischer Hinsicht? Gute Frage.

Vielleicht war ich darin ein Kind, eine Jungfrau, so unberührt. Ich beschloss nicht weiter darüber nachzudenken. Und ich trieb einfach so dahin. Dieser Leere entsprang eine zerstörerische Gleichgültigkeit, die eine Linie zwischen Leben und Tod verschwimmen ließ. Ich zeichnete nur mehr selten, woher die Inspiration nehmen, wenn nichts da ist aus dem man schöpfen konnte. Ich hörte auf großartig über mich nachzudenken. Sogar mein Leben wurde mir egal. Ganz Recht, das Leben selbst. Es interessierte mich nicht ob ich morgens überhaupt je wieder aufwachen würde. Ein demütiges Nichts. Die unerträgliche Waage zwischen Schmerz und Glück. Ich landete schon täglich in irgendeiner Bar mit irgendwelchen Leuten, die einerseits verranzt, psychotisch und mir im Geiste irgendwo nahe standen. Sie verurteilten dich nicht, weil sie wussten, dass es nicht an meinem übereifrigen Hedonismus lag, der mich jede Nacht dazu trieb mich in eine heilere Welt zu befördern, wo einen nichts bekümmert. Ich dachte nicht mehr viel, doch wenn ich mich total ausgebrannt fühlte, versuchte ich inne zu halten und in diesem großen Haufen Scheiße doch noch etwas zu finden, dass mich glücklich machen konnte. Vergebens.

Die Welt war getaucht in einem trüben Schleier, der sich um alles spannte, dass mir je vertraut vorkam. Als wären ständig Dämonen hinter mir her. Als kannten sie jeden Schlupfwinkel, den ich mir je erbaut hatte. Ja, sie holten mich ein und zerrten an meiner Seele. Labten sich daran, als wäre es der süßeste Honig, ein Nektar der Götter. Jeden Morgen an dem ich erwachte hasste ich und konnte mich nicht daran erinnern wie ich es geschafft hatte in mein eigenes Bett zu kriechen, sofern es überhaupt so weit kam. Ich fühlte mich wie ein Freak. Zerfressen von den Dämonen, die das Leben auf mich los ließ. Die meisten Menschen werden durch Emotionen kaputt gemacht. Trauer, Schmerz, Liebe oder Hass. Mein Hass auf die Welt war vergangen und der Hass auf mich selbst wuchs, aber noch nicht genährt genug, als dass er irgendwas in meinem Hirn dominieren könnte. Trauer spiegelte sich nur in meinen Augen wieder, als wären sie als letztes vor der Abstumpfung bewahrt worden. Schmerz? Das einzige das schmerzte war, dass nichts mehr schmerzte. Und dann die Liebe. Als hätte ich jemals in meinem Leben was von Liebe gespürt. Oh ja, eigentlich schon. Meine Schwester liebte mich und ich sie. Das Einzige, das mir schon immer etwas bedeutet hatte. Der einzige Mensch, der mir Zuneigung vertraut machte. Der einzige Mensch von dem ich wusste, dass er mich immer lieben wird. Und ich sie. Und ich sie.
Solch eine Kälte, lässt einen abstumpfen. Oftmals schien ich gar kein Mensch mehr zu sein. Ich war lebendig und doch war ich tot. Ein Dämon, der sich vom Leid anderer ernährt. Wer die Nacht zu seinem Tage macht, hat viele Erlebnisse. Die Nacht lässt uns lockerer werden. Bürden fallen im Schutz der Dunkelheit, die nur von dumpfen Lichtern gebrochen. Ich weiß wovon ich spreche.

Fast jede Nacht endete in einer Bar und etliche Morgen begannen neben einem "Fremden". Der Sex, das Spiel, ließ mich einen Moment lang vergessen, woran es mir eigentlich fehlte. Im Grunde alles nur Gesichtslose. Seelenlose. Manche davon verknallten sich in mich. Wollten meine Augen bei ihrem Anblick zum Funkeln bringen, sich in mein Herz fressen. Ich weiß, es ist nicht sehr ehrenhaft, aber manche ließ im Glauben an eine gemeinsame bessere Welt. Keiner hatte dies verdient, aber sie wollten die Wahrheit auch gar nicht sehen. Als hätten sie einen Filter übergestülpt, der nur das Gute reinließ. Und die Realität ist das nicht. Zwischendurch hab ich mir das auch die Fähigkeit gewünscht sich einfach selbst blenden zu können. Aber ich hab mir auch schon dann und wann gewünscht um die Hälfte dümmer zu sein. Den ganzen Mist gar nicht zu kapieren, der abgeht.

Aber eigentlich liegt mir viel daran die Wahrheit zu sehen. Es war ein Zwiespalt zwischen Neid und Verachtung, den ich an Gefühl für die Burschen übrig hatte mit denen ich meine Leere zeitweise ausmerzte. Meistens ging das nur ein paar Wochen so, ehe ich dem überdrüssig wurde, aber ein Bursche hatte Potenzial für zwei Monate. Gerwin. Er war ein netter und intelligenter Junge, der nach etwas Schönem in einer grauslichen Kloake suchte. Ja, er liebte diese Welt nicht, noch war ihm nicht bewusst, dass er geblendet von einer rasenden Suche nach seinem Erlöser war. Einem Engel, der ihm den Honig einflößen würde, nach dem er schon immer verlangt hat. Ob es diese Engel gibt? Selten, aber es gibt sie. Jedoch sagt dir niemand, dass du deshalb dein Leben mehr lieben wirst. Denn Engel sind zum Erfüllen da. Aber ich mochte ihn, mehr als er wohl je zu wissen glaubt. Gerwin war ein netter und gebrochener Kerl. Jede Nacht trieb es ihn in Bars und Lokale, weil ihn die Einsamkeit, mit scharfen Klauen lockte. Blutgetränkte Krallen. Irgendwo konnte ich mich mit ihm auch identifizieren, aber hätte ich ihm im entscheidenden Moment wehtun müssen, hätte ich es auch getan. Denn außer unserer Aussichtslosigkeit, der Liebe zum Ende und dem vermutlich letzten schönen Rest durch Benebelung mit Drogen, gab es nichts, das uns verband.

Aber eine zeitlang war diese geteilte Trauer erträglicher als alles übrige. Ich ertappte mich dabei, wie ich wieder Lebensmut in mein Gehirn driften ließ, aber sobald davon gekostet, übermannte wieder die Einsicht, dass die Realität unzumutbar schien. In so einem Zustand benimmt man sich wie ein Vampir. Man ernährt sich von den Ahnungslosen, denn die Wissenden würde man gar nicht so nah an sich ran lassen. Zuerst blendet man sie, spielt eine Show mit beträchtlichem Honorar. Sie sollen ruhig in ihrer Illusion abtauchen, schon um es dir leichter zu machen und du nährst dich an der Genugtuung daran, dass du gar nicht so hassenswert sein kannst, wenn dich andere umwerben. Schaffst dir damit deine eigene kurze Illusion, die immer wieder zu schnell gesprengt wird. Was dich mit einem Zorn erfüllt, der nur dadurch gestillt wird, indem du auch deren Welt in Staub und Rauch verwandelst. Die Haut dieser Menschen ist aber schon immer tot für dich gewesen. Bei Gerwin versuchte ich allerdings halbwegs menschlich zu bleiben, weil er mir ja irgendwo doch sympathisch war.

Wenn man sich schon zwei Monate nur mehr einem Menschen in jeglicher Hinsicht offenbart, gibt es wohl so ein unangetastetes Gesetz, dass einem verbietet sich auch anderen hinzugeben. Ich wusste ja, dass es Blödsinn war, aber ich wusste auch, dass es alles zunichte machen würde. Und genau aus diesem Grund hab ich es getan. Wieder mal war in so einem versifften Loch mit noch traurigeren Gestalten als mich selbst, und lernte einen Burschen kennen, den ich an meinem Höschen schnüffeln ließ. Es war nichts Bedeutendes. Ich kann mich nicht mal daran erinnern wie er geheißen hat oder über was wir gesprochen haben. Er machte mich einfach nur scharf und das allein zählte.

Und jetzt ratet mal wo ich mich am Tag danach mit Gerwin traf?! Ja, in diesem vergammelten Lokal. Mein Unterbewusstsein wusste wohl wieder mehr als ich. Denn wie könnte es auch anders sein, war mein Erlebnis vom Vorabend auch vertreten und kam gleich zu mir hin, als ich die Getränke von der Theke holte. Seine Finger spielten auch gleich wieder dasselbe Lied wie einen Abend zuvor schon. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sich Gerwin mit aufgebrachtem Blitzen in den sonst so emotionskargen Augen neben mir aufplusterte. Da ich aber nie ein Lügner, sondern immer nur ein Flunkerer war, bahnte sich gleich jedes Schuldbewusstsein den Weg aus meinem Mund. Man hat nun mal nicht sehr viele Bedenken, wenn man damit etwas verlieren kann, auf das man ohnehin verzichten kann. Oder will. Da dieser Bursche unsere nächtliche Begegnung nur unterstrich, war es das letzte Mal als ich Gerwin sah, beim Türmen dieser Lokalität für Schmeißfliegen. Und es war mir egal, wie alles andere auch. Emotionale Leere ist wie Treibsand. Es ist schwer sich rauszuwinden. Kaum möglich allein, aber irgendwo könnte es funktionieren, wenn man Glück hat.
 

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