Kind 99

Das Kind liegt mit geschlossenen Augen im Bett. Ich bin wach, denkt das Kind, aber ich will die Augen noch nicht aufmachen. Im Bett ist es schön warm. Das war nicht immer so. Manchmal ist das Kind aufgewacht, weil das Bett kalt und naß war. Und weil es ganz fürchterlich gestunken hat. Das Kind hat seinen Bruder dafür gehaßt, daß es seinetwegen Angst vor dem Aufwachen hatte.

Im warmen, trockenen Bett hört das Kind auch nicht mehr die Geräusche aus dem anderen Zimmer. Das Kind weiß, daß der M. mit der Mama wieder das Gleiche macht, wie der Hund vom Nachbarn mit der Cindy. Der M. mag das Kind und seinen Bruder nicht. Genausowenig, wie der M. die Cindy nicht mag. Sie gehen ihm auf die Eier, sagt er und deshalb drischt der M. die Cindy und das Kind abwechselnd gegen die Heizung. In der Schule muß das Kind dann immer sagen, es ist mit dem Fahrrad hingefallen.

Der Papa vom Kind und seinem Bruder ist tot, Überdosis. Der M. ist jetzt der Papa vom Kind und seinem Bruder. Die kleinen Schwestern hat er noch nie gehaut, die sind auch die Kinder vom M. Das Kind versteht den Unterschied nicht.

Manchmal hat der M. auch die Mama verdroschen. Wenn das Kind gerade nicht da war. Oder der Hund. Das Kind hätte so gern die Mama beschützt. Vor dem M. Lieber einmal mehr gegen die Heizung, als die Mama. Aber die Mama hat das Kind und den Bruder ins Heim gegeben. Das war im Sommer. Am Wochenende dürfen sie "heim". Dann hört das Kind den M. drüber reden, daß er den gewählt hat, der den Kinderscheck versprochen hat. Zuerst hat das Kind "Kinderschreck" verstanden. Dafür hat´s eine weitere Watsch´n vom M. gegeben. "Depperter Bua!" hat der M. zum Kind gesagt. Der M. kennt sich schließlich aus, wenn´s ums Geld geht.

Um die vier Kinderschecks kann der M. neue Leguane und Schlangen für sein Terrarium kaufen. Und einen neuen Hund. Den alten hat er irrtümlich überfahren.

Das Kind will die Augen noch immer nicht aufmachen. Sonst müßte es jetzt weinen. Der Bruder macht noch immer ins Bett, aber jetzt hat das Kind wenigstens ein eigenes. Das Kind nimmt sich vor, daß es dem Tschuschen aus der 4C heute eine reinhaut. Ganz fest. Weil der M. gesagt hat, er hat wegen denen keine Arbeit. Und hätte der M. Arbeit, wäre er nicht den ganzen Tag daheim bei der Mama. Dann hätte auch vielleicht die Mama mehr Zeit für das Kind.

(Anmerkung: Kind 99 ist 11 Jahre alt und lebt in Österreich)

                                                                  

Kontakt zur Autor: Brigitta Mathes mathes@lesezimmer.at
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