RITUAL AM MORGEN

6 Uhr 12.
Eine Dame erwacht.
Sie öffnet ihre Augen.
Die Schatten in ihrem Zimmer
vermischen sich mit dem Licht,
das wie ein sanfter Einbrecher
durch eines ihrer Fenster kommt.

6 Uhr 21.
Die Dame bekreuzigt sich
in ihrem Bett. Jetzt betet sie.
Sie hält dem lieben Gott
ihr Herz vor die Augen,
weil ihre Mutter zu ihr sagte
daß man den Tag so beginnen soll.

6 Uhr 38.
Die Dame steht auf.
Sie geht ins Badezimmer.
Dort steht seit Jahren
ein großes Glas.
Während wir sie beobachten
und den Atem anhalten,
nimmt sie das Glas in ihre linke Hand.

6 Uhr 41.
Die Dame hält das Glas
zwischen ihre Beine.
Sie füllt das Glas mit ihrem Urin,
sie füllt es bis zum Rand.
Sie trinkt das Glas aus.
Einfach so.
Einfach so verehrungswürdig.

6 Uhr 45.
Die Dame ist noch immer
eine atemberaubende Dame.
Der Urin ist gesund.
Die Dame weiß das.
Ihre Großmutter hat ihr
das beigebracht.

7 Uhr 18.
Die Dame wäscht sich.
Die Dame frühstückt.
Die Dame zieht sich an.
Sie beginnt ihr Tagewerk
und wir wünschen ihr viel Glück dabei.

8 Uhr 36.
Wir denken an die Männer,
die rauchen und trinken
und die ungesund leben.
Die keine Ahnung haben
von der Heilkraft des Urin.

9 Uhr 48.
Wir schreiben einen Brief
an die Dame mit dem Uringlas.
Wir sehen in ihr viel mehr
als sie in sich selber sieht.
Sie kann unserer Verehrung nicht entgehen
und mit einem Brief sagen wir ihr das.

 
Kontakt zum Autor: Alfred Zoppelt - alfred.zoppelt@aon.at
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