Ein Menschenleben


Vater war einer der wenigen, der Hannes Köms Sarg hinterherging. Hannes war Gewerkschafter gewesen, er hatte als Beamter für die Staatseisenbahn geknechtet. Verheiratet war er mit Wiene gewesen. Sie hatten einen Sohn. Er hieß Hans-Karl.
Wiene hatte der Krieg verrückt gemacht. Herabstürzende Bomben waren ihr zu viel. Hannes und Karl, sein Schwiegervater, hatten das Dach ihres Hauses abgedeckt, und während der Fliegerangriffe liefen sie anstatt in den Keller aufs Dach, um nasse Lappen auf Brand- und Phosphorbomben zu werfen. Dann schmissen sie die Vernichtungsgrüße auf die Straße hinunter. Das wurde Hannes’ Frau zu viel. Sie hockte in der Kellerfalle und wußte den Aberwitz vereint mit ihrem Mann und ihrem Vater, dem Schlachter mit dem Kaiser-Wilhelm-Bart, sie wußte den Abenteurer und Sozialdemokraten auf dem Dach. Wiene wurde in ihrer Ohnmachtspfütze vom Wahnsinn ergriffen und nicht wieder losgelassen.
Auch das Haus erholte sich nicht wieder, da es von der Wucht der Explosionen ringsum runde Wände geschenkt bekommen hatte. Später ärgerte sich Hannes über die vergebliche Mühe und das Risiko, das er und Karl, sein Schwiegervater, eingegangen waren, denn Ruinenbesitzern, Ausgebombten half Vater Staat beim Wiederaufbau. Schließlich hatte dieser den Krieg angezettelt und verloren. Nun stand er - wenigstens mit Geld - dafür gerade.
Hannes schickte die Züge allen Katastrophen zum Trotz pünktlich auf die Reise, und sei es an die Front oder ins Vernichtungslager. Die Zeit ging hin, Krieg und Nazis gingen vorüber. Hannes Köm aber blieb. Er sorgte für Wiene, er besuchte sie in ihrer Tollkiste, in der sie bis zu ihrem Ende hocken mußte. Hannes pflegte auch seinen schwächelnden Sohn, der sich ohne fremde Hilfe nicht zurechtfand im Leben. Es wunderte niemanden, daß er bald nach seinem Vater starb.
Unterdessen holte sich der Tod auch Karl, den Schlachter, den Abenteurer und Sozialdemokraten. Er hatte seinen Kaiser-Wilhelm-Bart über die Zeiten gerettet, und der wurde mit ihm in ein Erdloch versenkt, als Teutschland West sich über seine Wirtschaft zu wundern begann.
Hannes Köm hatte viel gesehen, er hatte einiges zuviel erlebt. Aber auch er rettete seinen Lebensstil über alle Epochen bis ins Pensionszeitalter hinweg. Morgens hetzte er aus dem Schlafzimmer, er flitzte aus dem Federbett in die Küche, ins einzige geheizte Zimmer im Haus. Dann ging er Züge pünktlich machen. Danach hockte er sich in die Kneipe, in immer dieselbe. Lütt un Lütt - Köm und Bier - also Kümmelschnaps und ein viertel Liter Gerstensaft zum Nachspülen, ein Gedeck, wie man seinerzeit auch zu sagen pflegte. Immer nur eins zur Zeit.
Hannes gab gern einen aus, zumal als Rentner. Das Ruhegeld floß reichlicher als sein Arbeitsgehalt.
Eines Tages hörte das alles auf, eines Tages fand er sich in einem Sarg wieder. Vater, ein paar Übriggebliebene: anverwandte Rentner sowie die Trinkerschwadron seiner Stammkneipe brachten ihn auf die letzte Reise.
Hannes Köm ging vor Jahren, vor Jahrzehnten. Jetzt ist nicht mehr viel von ihm übrig, nicht viel mehr als diese Erinnerungssplitter. Er weckt das Gedächtnis der wenigen noch lebenden Zeugen seines Daseins, wenn sie in die Keller und Grüfte der Vergangenheit hinabsteigen, wenn sie sein Gesicht aus dem Schwarzweiß einiger Photos aufglühen sehen. Ich weiß nicht, wo genau sein Grab liegt, ich weiß nicht, ob es schon aufgelassen wurde für einen neuen Helden.
Hannes Köm war niemals schlechter Laune gewesen, dafür hatte er viel zuviel getrunken. Vater sagt, er sei ein fröhlicher, aber verschlossener Geist gewesen, einer, der seine Sorgen für sich selbst behalten habe. Keine Photographie, die ich kenne, worauf er nicht lacht. Und diese Bilder geben ihn sein Gesicht wieder, seinen Körper, da strahlen Zähne und leuchten Lippen, da tauchen Hände, Nase und Ohren aus dem Vergessen auf. Da wird ein Mensch wiedergeboren! Und seine Augen erzählen seine Geschichte, sie erzählen sein Leben, das man füllen kann, auffüllen oder ausfüllen, wie man will, wenn man kann, wenn man will.

 

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