Ein Friedhofsbesuch
„Hey Sie, was machen Sie da ?“
Verwundert schaue ich mich um und entdecke einen Mann in einer blassen, ausgewaschenen Uniform.

„Nichts weiter“, antworte ich höflich.

„Sie Schwein, sie pissen hier rum und behaupten nichts zu tun“, seine Stimme klingt erregt oder sogar böse, aber durch den Wind lässt sich keine ausreichende Differenzierung seiner Stimmungslage erzielen.

„Ach so, das meinen Sie“, erwidere ich erstaunt, warum bin ich eigentlich erstaunt. Schwierige Frage zu einer schlechten Zeit, ich kann mich schließlich nicht um drei Sachen gleichzeitig kümmern.

„Ich weiß nicht warum, wissen Sie immer warum Sie irgendetwas tun oder nicht tun“, frage ich zurück. Es scheint als habe ich ihn damit eiskalt erwischt, er überlegt kurz und sagt dann: „Da haben Sie nicht unrecht, aber ich glaube auf einen Friedhof habe ich noch nie zwischen zwei Gräber gepisst.“

„Ich auch nicht, aber vielleicht gerade deshalb tue ich es, glaub ich zumindest oder ich hoffe es wenigstens zu wissen.“

Der gute Mann schaut etwas ratlos, hab ich ihn jetzt überfordert oder ist er neidisch, keine Ahnung. Das ist mir früher schon immer aufgestoßen, wissen wie man einen Schnürsenkel bindet, den Reißverschluss öffnet bevor man uriniert, das Klo spült, den Arsch wischt usw. Manchmal war ich richtig verunsichert über das Wissen und vor allem über die Folgen.

„Na, Ja...“, höre ich etwas, was mich, aus meinen zugegebenermaßen infantilen Gedankengängen reißt. Also schrecke ich auf und stelle fest, das die Uniform zufrieden war mit meiner Antwort oder es aufgegeben hat, weil ich jetzt eh fertig bin oder begibt sich auf die Suche nach intellektuellen Beistand, um es mir dann zu zeigen.

Ich zeih den Reißverschluss hoch, natürlich lass ich „ihn“ vorher abtropfen und in die Schlüpfer zurückgleiten. Immer wieder dieses Wissen. Gerade als ich mich zum Fortgehen entschloss, seh ich ein kleines Mädchen, welches Blumen von einem Grab nimmt, um sie auf ein anderes zu legen. Geld gespart, denke ich so bei mir, als sie zu einem anderen Grab geht und von diesem einen Kranz nimmt, an welchen ein Fähnchen mit der Aufschrift: „Schlaf mit Gott, Johanna“ hängt, um es vor ein altes, halb verwittertes Steinkreuz wieder abzulegen. Professionell  schizophren, aber fair, geht es mir durch den Kopf. Jetzt scheint sie mich bemerkt zu haben, denn sie kommt auf mich zu. Ich bleibe stehen, habe ich Angst, dass sie mir ins Bein beißt oder nur Respekt, dass sie schon in ihrem zartem Alter zugibt verrückt zu sein. Keine Ahnung, wie immer.

„Haben Sie 100 Mark“, fragt sie mich und schaut dabei auf  meine Beine. Ich quetsche mir ein: „Nö“ heraus und da ist sie wieder diese Angst, dass sie mir ins Bein beißt.

„Tut mir leid für Dich, dabei dachte ich, mir geht es schon am destruktivsten“, sagt sie und reicht mir einen 100-Markschein.

Destruktiv, überlege ich angestrengt, sie ist höchstens sieben oder Liliputaner, aber ich glaube die sind dezenter mit ihrer Verrücktheit und der Wortwahl. Ich nehme den 100- Markschein und frage: „Destruktiv ?“, es muss ziemlich bescheuert geklungen haben und darüber hinaus entsprach es in keinem Fall dem, was ich eigentlich fragen wollte.

„Hat mein Opa, der Vater meines Vater, mir erzählt.“

„Ah ja“, das klang noch bescheuerter.

„Kann ich Dich zu einer Limo einladen ?“, entfährt es mir.

„Nein, ich muss noch ein paar Gräber verschönern.“

Ich verkneife mir die Frage, warum eigentlich, nicke ihr zu, obwohl sie immer noch meine Beine anstarrt, und gehe in Richtung Ausgang, langsam keine schnellen Bewegungen, wer weiß? Am Ausgang schmeiße ich den 100- Markschein in den Kasten für Friedhofsspenden, für die Toilettenbenutzung sozusagen. Eigentlich wollte ich das Grab meiner Oma besuchen, aber ich glaube ich warte bis es dunkel ist. Es gibt zu viele Verrückte tagsüber auf den Friedhöfen. 

01.09.1993

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