Gisela

Als ihr Bett in das Krankenzimmer geschoben wurde, in dem ich schon eine Woche verbracht hatte, ahnte ich noch nicht, welch traurige Lebensgeschichte sich hinter dem aschfahlen, faltigen Gesicht der achtundvierzigjährigen Gisela verbirgt.

Die Krankenschwester sagte zu mir: „Frau R, nicht dass Sie denken, Sie bleiben über das Wochenende alleine im Dreibettzimmer! Sie bekommen eine Patientin dazu, die etwa so alt ist wie Sie. Ich denke, sie werden sich gut verstehen.“

„Was, die soll so alt sein wie ich? Die sieht aus wie mindestens fünfundsechzig“, waren meine Gedanken bei ihrem Anblick - ich bin grad mal fünfzig. Na ja, macht nix. Im Krankenhaus kann man sich die Mitpatienten nicht aussuchen. 

Ich selbst wurde mit dem Rettungswagen in die Klinik eingeliefert. Nachts kam diese Colitis - Attacke, nach der mir das Sterben näher war, als das Weiterleben. Mein Mann musste den Notarzt verständigen, als er die Bescherung in der Toilette sah. Erbrochenes wohin man sah. Das Klobecken voller Blut. Mir schlug es die Zähne aufeinander und ich hatte keine Kraft mehr, aufrecht zu stehen. Das hohe Fieber gab mir ein Gefühl des ausgeliefert seins.

Der Notarzt war zum Glück sehr schnell da und begleitete mich im Krankenwagen bis ins Krankenhaus.

Doch schon wenige Stunden später ging es mir wieder besser. Die moderne Medizin, und die hohe Anfangsdosis von Cortison,  taten ihr Nötiges dazu. Eine Bluttransfusion blieb mir, trotz des hohen Blutverlustes,  zum Glück erspart.  Ich lehnte sie auch strikt ab, weil ich furchtbare Angst davor hatte, mir zu meiner Colitis ulcerosa noch weitere Krankheiten dazu zu holen.

Wäre mir „die Neue“ eine Woche früher begegnet, hätte ich vielleicht nicht vor lauter Selbstmitleid in die Kissen geheult. 

„Weshalb bist Du hier?“ ,wollte Gisela wissen. Sie ging gleich zum vertrauten DU über. Mir war das nicht so recht, aber ich merkte bald, dass sie eine sehr einfache Frau ist.

Meine Geschichte war schnell erzählt.

„Na und Du?“

Ich sah gleich, dass sie ein EKG – Gerät umhängen hatte. Also musste es etwas mit ihrem Herz zu tun haben. Sie erklärte mir den Grund für ihre Einweisung ins Krankenhaus.

Als wir uns beim Abendbrot gegenüber saßen, fielen mir  die Kratzer an ihren Unterarmen auf. So ähnlich sahen meine Arme immer aus, wenn ich Brombeeren, oder Himbeeren im Wald pflückte. Bei ihr waren die Kratzer aber sehr gleichmäßig.

„Du wunderst dich über meine Arme?“

„Willst Du es mir erzählen,  oder ist es Dir unangenehm, dass ich so auf die Kratzer geschaut habe?“

Giselas Gesicht verfinsterte sich.

„Ich habe ein psychisches Problem. Immer wenn mir die Seele überzulaufen droht, muss ich meinen Schmerz heraus lassen. Das geht am besten, wenn ich mir mit einer Rasierklinge die Arme aufritze. Wenn dann das Blut heraus läuft, lässt der Druck im Körper nach.“ 

Ich sagte nichts dazu. Ich hatte im Fernsehen mal eine Sendung über das Thema gesehen. Es gibt viele Menschen, die so etwas machen. Da ich kein Psychologe bin, wollte ich mich auch nicht äußern. Mir tat sie nur so unheimlich leid. Ich streichelte ihren Arm und sagte:

„Du brauchst unbedingt professionelle Hilfe.“

„Die habe ich schon. Ich bin in Behandlung. Nach dem dritten Suizidversuch lag ich ein viertel Jahr in der Psychiatrie. Dort wurde ich von einer Psychologin betreut, der ich all meine Probleme erzählen konnte. Leider ist die nicht mehr da. Zu den Anderen habe ich noch kein Vertrauen.“

Plötzlich begann Gisela wie in Trance zu erzählen:

„Immer, wenn er vor mir steht, und zu mir spricht: „Tu es doch endlich, tu es! Mach deinem beschissenen Leben ein Ende, schlucke ich die Schlaftabletten, oder versuche mir die Pulsadern aufzuschneiden.“ 

„Wer steht vor dir?“

Mir jagte es bei ihren Worten kalte Schauer über den Rücken. 

„Mein Vater. Er ist mit vierundfünfzig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, aber er ist immer da, immer, Tag und Nacht. Er will, dass ich sterbe. Er ist schon viele Jahre tot, aber er lässt mich einfach nicht in Ruhe.“ 

Ihre Hände zitterten. Trotzdem hatte ich das Gefühl, sie steht neben sich, redet über eine andere Person. 

„Er hat mich missbraucht, als ich in der fünften Klasse war. Wieder und immer wieder hat er mir weh getan. Er hat mir eingeredet, wenn ich irgend jemand etwas erzähle, bringt er mich um. Ich hatte so viel Angst, dass ich in der Schule nicht mehr mitmachte. Ich blieb sitzen.

Nur die Psychologin weiß davon. Und jetzt du.

Ich besitze ein Tagebuch. Darin schreibe ich alles auf, was mich bewegt. Die Psychologin hat es mir empfohlen. Seitdem geht es mir etwas besser. Sie sagte mir, ich sei eine multiple Persönlichkeit.“

Arme Gisela. Das Trauma verfolgte sie nun schon so viele Jahre. Kein Wunder, wenn sie heute krank und erwerbsunfähig ist.

Mir krampfte es das Herz zusammen, wenn ich mir vorstellte, was sie als kleines Mädchen erdulden musste. Sollte ich das Gespräch in eine andere Richtung lenken, oder sollte ich sie reden lassen? Die Frage erübrigte sich. Ich hatte das Gefühl, dass sie  redete, ohne meine Gegenwart bewusst wahr zu nehmen. 

„Ich hatte mich in scheinbare Auswege geflüchtet. Wöchentlich zweimal besuchte ich das Fitnessstudio. Es wurde für mich zur Sucht, immer mehr abzunehmen. Ich konnte die Jeans meiner Jüngsten anziehen, und empfand dabei eine gewisse Befriedigung. Meine drei Töchter sahen, was mit mir passierte. Auch meinem Mann und meiner Schwiegermutter, die mit im Haus wohnt, fiel mein Fanatismus auf. Doch der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht. Eines Tages war es wieder so weit. Mein Vater stand mit gierigen Augen vor mir. Ich schluckte alle Schlaftabletten, die ich hatte. In der Psychiatrie kam ich irgendwann zu mir. Der Magen war ausgepumpt, davon hatte ich allerdings nichts mitbekommen. Ich lag ein viertel Jahr auf dieser Station, aber das sagte ich dir ja schon. In diesem viertel Jahr bauten sich die Muskeln ab. Ich wog noch fünfzig Kilo. Die Beine waren zu schwach zum gehen. Ich musste in den Rollstuhl. Auch daheim konnte ich mich nur im Rollstuhl fortbewegen.

Ich war im Garten, als ich meine Schwiegermutter mit der Nachbarin reden hörte: „Sag mal, was fehlt denn eurer Gisela eigentlich?“

„Das kann ich dir sagen“, so meine Schwiegermutter. „Ein richtiger Tritt in den Arsch fehlt dieser blöden Kuh.“

Ich war so schockiert, dass ich in die Wohnung rollte und sofort zur Rasierklinge griff.

Meine Töchter hatten alle Rasierklingen versteckt, aber Not macht erfinderisch, das weißt du ja. Ich hatte eine in der Sesselritze versteckt.

So, nun bin ich wieder im Krankenhaus. Ich bin einfach umgefallen. Das Herz, sagen die Ärzte; und blutarm soll ich sein. Ich wurde schon gefragt, ob ich Vegetarier bin. Ab heute bekomme ich, zu den Eisentabletten und dem vielen anderen Zeug,  jeden Tag Fleisch zu essen, damit sich das Blut wieder aufbaut.“ 

„Gisela, was sagt denn dein Mann zu deinem Problem?“

Etwas schockiert, als ob ihr meine Gegenwart bewusst wurde, sah sie mich an.

„Ich glaube, den interessiert das gar nicht so sehr. Von der Vergewaltigung weiß er nichts, darf es auch niemals erfahren.  Der hält nur zu seiner Mutter. Wenn am oder im Haus etwas verändert werden soll, so bespricht er alles mit der Alten. Ich bin Luft für ihn.“ 

Den Eindruck, dass Giselas  Ehe nicht funktionierte hatte ich bereits nach ein paar Tagen.

Mein Mann telefonierte dreimal am Tag  mit mir. Das war zwar meiner Ansicht etwas übertrieben, aber er sorgte sich eben um mich.

Mich beschäftigt es sehr, was Andere für Schicksale haben, und mir fiel bei Giselas Erzählung eine Spruch ein, der im Schaukasten vor einer Kirche zu lesen war:

„Ich weinte, weil ich keine Schuhe hatte, bis mir ein Mensch begegnete, der hatte keine Füße.“

Dieser Satz hat sich bei mir sehr tief eingeprägt. Seitdem klage ich nicht mehr, wenn es mir mal schlecht geht. Ich nehme mein Schicksal an, und kann so besser damit umgehen. Ich habe immer noch genug Kraft, andere Menschen aufzuheitern und zu trösten.  

Giselas Mann hatte am fünften Tag noch nicht einmal angerufen.  Ihre Töchter besuchten sie der Reihe nach. Die Älteste hatte ihr vierjähriges Mädchen dabei.

„Meine Große ist auch ein Problem für mich“, sagte Gisela. „Sie wechselt die Männer, wie andere Leute ihr Hemd. Ich habe so eine riesige Angst, dass einer der Kerle dem Kind zu nahe kommt. Die Enkelin  ist meine einzige Freude auf dieser beschissenen Welt. Ich glaube, wenn ich die nicht hätte, würde ich die Radieschen schon längst von unter betrachten. Meine Tochter weiß das auch, und sie setzt mich mit dem Kind unter Druck. Wenn ich nicht spure, entzieht sie mir die Kleine. Aber sie tut das nicht, um mich positiv zu stimmen. Nein, sie will ihren Willen durchsetzten, und nutzt meine Gutmütigkeit aus.

Wenn mein Mann in meinem Beisein das Mädel auf den Arm nimmt, renne ich hin und reiße es ihm weg. Ich möchte meine Enkelin vor allen Männern beschützen.“ 

Ich spürte, dass Gisela von mehreren Menschen in ihrem Umfeld unter Druck gesetzt wurde. Was mich aber sehr verwunderte, sie weinte nicht bei diesen Schilderungen. Ich hätte mich dabei kaputt geheult, wenn meine Mitmenschen mir so eine vermeintliche Ungerechtigkeit entgegen brächten.

Ich merkte aber auch bald, dass die Frau unter Psychopharmaka und Barbituraten, also Beruhigungsmitteln, stand.  Anders hätte sie wohl  nicht existieren können, und umsonst wird man auch nicht als erwerbsunfähig eingestuft.

Ich hatte nicht den Wunsch, ihre Schwiegermutter kennen zu lernen. Trotzdem baute sich  in mir eine Aversion gegen diese gefühlskalte Frau auf, die in ihrem Haus das Zepter in der Hand zu halten schien und wahrscheinlich ihre Enkeltöchter, sowie Giselas Ehemann manipulierte. 

Am sechsten Tag kam er dann endlich mal seine Frau besuchen. Ich beobachtete sein Verhalten. Kein Küsschen, kein liebes Wort, kein Streicheln zeigte der kranken Frau, dass er zu ihr hielt. Er brachte ihr ein paar holzige Birnen aus dem eigenen Garten mit. Kein Blümchen, keine liebenswerte Geste war zu sehen.

„Wie gut habe ich es doch“, waren meine Gedanken. „Mein Mann sorgt sich wirklich um mich.“

Ob es an den Medikamenten lag, oder an ihrem psychischen Zustand allein, konnte ich nicht nachvollziehen, warum sie ihre Probleme bei mir loswerden wollte. Vielleicht lag es auch an mir, dass ich sie mit meiner mitfühlenden Art animierte, ihre Sorgen bei mir abzuladen. 

Auch meine Schwester rief mich im Krankenhaus mehrmals an. Sie hatte ihre Erfahrungen mit Psychologen schon gemacht und wollte mir einen guten Rat geben:

„Wenn Dir jemand seine Sorgen erzählt, so höre geduldig zu. Sage nicht viel dazu. Wenn Du dich von diesem Gesprächspartner verabschiedest, dann drücke ihm fest die Hand und gib ihm seine Sorgen wieder mit auf den Weg. Streichle ihm den Handrücken, damit die Sorgen wirklich bei ihm bleiben. Es hat Jeder seine eigenen Probleme, mit denen er fertig werden muss.“

Es ist natürlich etwas Wahres daran. Ich will es versuchen, so mit den Sorgen anderer Menschen umzugehen, um mich selbst zu schützen. Ich kann, mit meiner Krankheit, Sorgen absolut nicht gebrauchen. Selbst der Oberarzt sagte mir, dass ich mir ein dickes Fell wachsen lassen soll. Scherzhafterweise fragte ich ihn, ob es auch dafür Pillen gibt. 

Die Sprache ist das Ventil der Seele, sagt man. Meine Tochter ist Gott sei Dank die Person, bei der ich dieses Ventil ab und zu öffnen kann. Das lernt man erst schätzen, wenn es einem mal richtig schlecht ging.

Als ich mit ihr schwanger war, war ich nicht so sehr erfreut. Dreimal hintereinander schwanger.

„Jedes Jahr ein Kind, ich bin doch keine Kuh!“, hatte ich damals zu meinem Mann gesagt. Die erste Schwangerschaft kam zur Fehlgeburt. Dann kam unser Sohn und gleich danach, ein reichliches Jahr später, unsere Tochter. Heute bin ich so froh, ausgerechnet sie zu haben. Wir sind füreinander da. 

Auch Giselas dritte Schwangerschaft war nicht gewollt.

Ihre jüngste Tochter war ein Nachzügler. „Es passierte, als mein Mann und ich in einem Hotel übernachteten. Er bekam von seinem Betrieb ein  Wochenende in einer Großstadt der ehemaligen DDR geschenkt - mit Theaterbesuch. Als ich ihm später sagte, dass ich im fünften Monat schwanger bin, schrie er mich an: „Das ist niemals von mir, das Kind!“

„Weißt du, wie weh mir diese Worte taten? Ich versuchte alles mögliche, das Kind abzutreiben. Ich sprang vom Tisch, ließ mich auf den Bauch fallen, aber nichts half.

Heute bin ich froh, ausgerechnet die Jüngste zu haben. Sie ist diejenige meiner Töchter, die zu mir hält, und die versucht, mein Gefühlschaos zu verstehen.“ 

Für mich stand wieder einmal fest: Alles im Leben hat einen tieferen Sinn!

Giselas traurige Geschichte hatte mich sehr bewegt. Ich konnte sie ihr nicht mit einem Händedruck zurückgeben, ich musste sie aufschreiben, damit sie meine Seele nicht mehr belastet. 

Kontakt zur Autorin: Brigitte Richter -  richter-thierbach@gmx.net  
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