In Gedanken versunken steht die alte Frau am Fenster.
Wo sind nur die Jahre geblieben? Oft denkt sie das. Sie hadert mit ihrem
Schicksal. Fünf Kindern habe ich das Leben geschenkt. Heute, an
Weihnachten, bin ich alleine, wie so viele Jahre zuvor… Die Tränen
rollen ihr über die Wangen und sie betrachtet ihr Spiegelbild im
Fenster. Schneeweiß und schütter ist das Haar, faltig das liebe Gesicht.
Draußen ist es dunkel. Wenige Flocken treibt ein eisiger Wind die Straße
entlang. Es scheint, als tanzten sie unterm Licht der Straßenlaternen
ihren fröhlichen Winterreigen..
Sie liebt es, dieses Bild der Stille und des Nachdenkens, obwohl sie
sehr in sich gekehrt ihren Gedanken und Gefühlen freien Lauf lässt.
Der Große, seinem Vater sehr ähnlich, manchmal aufbrausend und stur, hat
studiert. Er ist ein erfolgreicher Anwalt geworden. Er wohnt an der
Küste; hat an Weihnachten keine Zeit, zu ihr zu kommen. In den wenigen
Telefonaten im Jahr ist sein Lieblingswort immer „Stress!“ Gerda, die
Tochter, die ein Jahr später zur Welt kam, hat ihr neues Zuhause in
England gefunden, als Deutschlehrerin arbeitete sie an einer
Eliteschule. Gerdalein, wie die Mutti sie früher nannte, ist schon
Rentnerin, hat aber ein gutes Auskommen, wie sie immer wieder in den
wenigen Briefen versichert, die sie an ihre Mutter schreibt.
Und Klaus, ihr Sorgenkind von Anfang an, hatte diese schlimme
Kinderkrankheit in den schlechten Jahren nach dem Krieg leider nicht
überlebt. Er wäre heute bestimmt bei mir, denkt sie.
Doch auch die Zwillinge, Bärbel und Gitta, die hübschen Mädels, waren
ständig irgendwo in der Welt unterwegs. Tänzerinnen sind sie geworden
und Gott sei Dank unzertrennlich geblieben. Sie leiten nun, da sie auch
schon älter sind, eine renommierte Tanzschule.
Stolz kann sie sein, auf alle Vier, die ihr geblieben sind. Geschenke
kauft sie schon lange nicht mehr für ihre Kinder. Sie weiß ja auch kaum
etwas von ihnen. Und von dem bisschen Rente kann sie auch keine großen
Ausgaben machen. Trotzdem hat sie, wie in jedem Jahr an Weihnachten,
einen kleinen Tisch bereitgestellt, in der Hoffnung, dass eines ihrer
Kinder plötzlich vor der Tür stehen sollte.
Für den Großen hat sie die Lieblingsplätzchen gebacken, mit
Schokoladenguss und bunten Streuseln drauf. Gerda würde sich sehr über
ein paar selbst gestrickte Schafwollstrümpfe freuen. Sie fährt doch
immer in die Berge, zum Schi laufen. Und die Kleinen, die bekämen jede
einen Schokoladenweihnachtsmann, um den sie sich früher immer gestritten
haben. Mitten in all den armseligen Gaben steht das Foto von Klaus.
…..Und nach Weihnachten räumt sie alles wieder weg.
Die alte Frau bemerkt, wie ein Auto vor ihrem Haus hält und denkt sich:
Die Nachbarin bekommt sicherlich Besuch. Es ist ja Weihnachten; da
klingelt es an ihrer Wohnungstür. Vier Menschen stehen davor, die sie
zuerst gar nicht erkennt. Ihre Augen waren in den Jahren von den Tränen
getrübt. Aber die Stimmen, die würde sie aus Tausenden heraus erkennen.
Ihre Kinder waren gekommen. Alle Vier!
Jetzt war für die alte Frau Weihnachten! |