Das Wimmern der gequälten Seele
 

Ist es nur Zufall, oder was steckt hinter meiner inneren Unruhe, die ich jedes Mal verspüre, wenn ich den Archivkeller des uralten Gebäudes betrete, in dem ich seit einigen Jahren in alten Akten krame?  Ich, ausgerechnet ich, ein kleines Licht im großen Universum; eine Mitarbeiterin in einem staubigen Verwaltungsarchiv, das jede Menge altes und neueres Papier beherbergt, aber auch Mysteriöses aus den vergangenen Jahrhunderten enthält, sollte das Geheimnis des Gemäuers erfahren.

Dieses Archiv befindet sich vielen Jahrzehnten in einem alten Barockschloss. Die Archivräume selbst sind im Keller untergebracht, der an sich schon geheimnisvoll auf die Mitarbeiter der großen Behörde wirkt, die rein zufällig mal da hin kommen. Die „Archivmäuse“, so nennt man uns scherzhaft,  kennen die Räume, finden sie nicht mehr gruselig und tun einfach ihre Arbeit, obwohl immer wieder mal eine Mitarbeiterin sehr blass aus dem Keller nach oben kommt. Niemand will zugeben, dass er im Keller eine gequälte Stimme gehört hat. Könnte ja jemand auf den Gedanken kommen, dass man nicht mehr alle beisammen hat, wenn man darüber spricht.

Gerda, meine Kollegin sagt neulich zu mir:

„Wir müssen mal in den Raum, wo die ganz alten Akten aus dem 16. Jahrhundert liegen. Die sollen da raus, müssen umgelagert werden.“

Auch sie wollte diesen Raum nicht alleine betreten; hätte das aber niemals zugegeben.

Wütete zu dieser Zeit nicht die Pest in Deutschland, deren Erreger Hunderte von Jahren überleben können und vielleicht noch an diesen  alten Papieren haften?  Mich selbst faszinierte es, wie die Menschen damals akribisch genau ihre Erlebnisse aufschrieben.

„Gerda, was ist das für eine Tür, die einfach mitten in der Wand angebracht wurde?“

„Dahinter geht es in einen weiteren Keller, der noch eine Etage tiefer liegt. Ich kenne ihn aber auch nicht, obwohl ich schon mehr als 20 Jahre hier ein- und ausgehe, weil die Tür verschlossen ist und meines Wissens auch noch nie geöffnet wurde. Es soll, laut Gerücht, ein Geheimgang von diesem Keller aus hinunter zum Fluss führen.“

In mir war plötzlich die Neugierde geweckt. Ich wollte unbedingt das Geheimnis des verschlossenen Kellers, der aus dem 11. Jahrhundert stammte, ergründen.

Ich ließ Gerda schon mal voraus gehen und rüttelte heimlich an der fest verschlossenen Tür. Sie war nicht sehr stabil, eigentlich nur aus dünnem Holz. Man müsste sie mit einem stabilen Hebel leicht aufdrücken können.

Der Gedanke, hinter diese Tür zu schauen, ließ mich von nun an nicht mehr los.  Nachts träumte ich von düsteren Gestalten, die ihr Unwesen in diesem mystischen Geheimgang trieben.

Immer mehr ergriff der Gedanke von mir Besitz, in diesen Keller einzudringen. Eines Tages, Gerda war wieder nach oben in unser gemeinsames Büro gegangen, ließ ich mich von ihr ohne ihr Wissen in dem geheimnisvollen Archivraum einschließen.  Eine Taschenlampe, mein Handy, eine Kerze und ein Feuerzeug hatte ich vorsorglich in meiner großen Jackentasche verstaut.

Das Brecheisen, welches ich vor Tagen von daheim mitgebracht hatte, lag bereits versteckt hinter einem Bücherregal. Gerda hatte davon nichts mitbekommen.  

Als sie nach oben gegangen war, verschloss sie die schwere, knarrende Eisentür, die zu den unterirdischen Räumen führte, in denen sich das Archiv befindet. Ich war eingesperrt! Ein wenig Angst verspürte ich in diesem Moment der Dunkelheit und des Alleinseins schon. Das elektrische Licht traute ich mich nicht anzuschalten, denn da wäre es aufgefallen, dass noch jemand in den Kellerräumen ist. Also wartete ich, bis Gerda Feierabend machte und zum Bus ging. Sie nahm an, ich wäre auch schon gegangen. Als sie Kartons hin und her räumte, sagte ich zu ihr: „Gerda, ich gehe jetzt nach oben und mache Feierabend. Hab heute noch was vor!“

„Na, tschüss dann, und schönen Feierabend!“

Mann oh Mann, ging mir jetzt die Muffe! Sie bekam zum Glück nicht mit, dass ich mich hinter Kisten versteckte, die bereits zum Abtransport gestapelt waren.

Werde ich jemals wieder aus diesem Keller heraus kommen, wenn alle Bediensteten der Behörde nach Hause gegangen sind? Eine Stunde harrte ich lautlos aus. Kalt war es nicht, aber sehr ungemütlich.

Doch dann, als es ruhig im Haus war, kein Auto mehr vom Parkplatz fuhr, setzte ich das Brecheisen an, ein kleiner Drücker und die Tür sprang auf. Jetzt mussten sich aber meine Augen erst an den dunklen Einstieg in den geheimnisvollen Keller gewöhnen. Vorausschauend hatte ich meine Taschenlampe mit neuen Batterien bestückt. Der Lichtschein ließ mich die ausgetretenen, schmutzigen Sandsteinstufen erkennen, die in eine unbekannte Tiefe führten. Spinnweben legten sich über mein Gesicht, die ich ständig wegwischen musste. Die Spinnen, die mir über den Kopf krabbelten, nahm ich vor Aufregung gar nicht mehr wahr. Immer weiter tastete ich mich am kalten, rauen Sandstein nach unten, als plötzlich ein surrendes Geräusch zu hören war. Das Herz blieb mir fast stehen. Das Rauschen wurde immer stärker und ein Gefühl von tausend Gestalten, die an meinem Kopf vorbei huschten befiel mich. Es waren Fledermäuse, die ich aufgeschreckt hatte. Doch wie mit unsichtbarer Hand zog es mich weiter in die Tiefe. Graf Dracula kam mir in den Sinn,  und Vampire, die mir gleich mein Blut aussaugen würden. Ich werde elendig verrecken! Warum habe ich mich auf so etwas eingelassen? Ich hatte unbeschreibliche Angst, doch die Neugierde trieb mich tiefer und tiefer in den Felsenkeller hinein.

Und dann hörte ich es, das leise Stöhnen. Es wurde lauter, je tiefer ich den steinigen Gang hinab stolperte. Es klang wie eine menschliche Stimme.

„Hallo, ist da jemand?“

Doch es kam keine Antwort. Immer noch schwirrten die Fledermäuse um mich herum.

„Hallo, kann ich Ihnen helfen?“

Das Stöhnen wurde zum Wimmern, verwirrte meine Wahrnehmung. Kalter Schweiß bedeckte meinen angespannten Körper. Sollte hier ein Mensch gefangen gehalten werden? Oder ist es ein Tier, das sich verirrt hatte?

Ich dachte an Kaspar Hauser, der in Nürnberg in einem Verlies viele Jahre gefangen gehalten wurde, und als 17 Jähriger bei Nacht und Nebel endlich seine  Freiheit bekam.

Meine Taschenlampe leuchtete alle Winkel und Ritzen aus. Ich konnte nichts erkennen. Das Wimmern kam immer näher, durchdrang meine Seele,  und plötzlich wusste ich, was  mich in diesen Keller trieb: Es war kein leibhaftiger Mensch - es war die gefangene Seele eines Menschen, der vor einigen hundert Jahren in diesem Schloss gequält und gefoltert worden war. Und dann sah ich das Wesen, welches mir diese Visionen vorgaukelte: Ein Skelett, eingemauert in einer Felsennische, schrie nach Erlösung.

Mein Brecheisen hatte ich vorsorglich in der Hand. Ich stocherte damit im porösen Sandstein herum, der das Skelett umgab. Mit einem Mal tauchten Bilder in meiner Fantasie auf, die ich aus historischen Romanen kannte. 1525, der große deutsche Bauernkrieg, machte auch vor diesem Herrscherhaus nicht Halt. Es wurde gebrandet und gemordet. Das ehemalige  romanische  Benediktinerkloster, das später als Herrschaftshaus der zersplitterten Thüringer Fürsten genutzt wurde,   brannte bis auf die Grundmauern nieder; nur der Keller blieb verschont. Dorthin flüchtete sich ein junger Mann. Bald durchschaute ich seine leidvolle Geschichte. Vor meinem geistigen Auge tauchten die Bilder seines Schicksals auf. Er war sehr schön, sehr athletisch und sehr klug. Er liebte die Frau des regierenden Herrschers; eine verbotene Liebe. Die schöne, junge Fürstin wollte mit ihrem Liebsten durch den unterirdischen Gang hinunter zum Fluss fliehen, aber der eifersüchtige Ehemann folgte ihnen, überwältigte den Jungen, mit Hilfe seiner Vasallen, ließ ihn foltern und  tötete den Nebenbuhler auf so grausame Weise, dass er ihn in der Sandsteinwand einmauern ließ, und zwar in der Nische, in der ich nun sein Skelett fand. Der eifersüchtige Fürst sprach einen Fluch aus, dass die Gebeine des Geliebten seiner jungen Gemahlin so lange in diesem Keller vermodern sollten, bis eine mutige Frau es wagte, in diese Katakomben einzudringen, um seine Seele zu erlösen. Die Geliebte des jungen Mannes ließ sich willenlos von ihrem Ehemann zurück in die Geborgenheit der Familie führen. Nicht die Folterqualen, nicht der grauenvolle Tod ließen das jämmerliche Wimmern über Jahrhunderte nicht verstummen, sondern der Verrat der Geliebten, die trotz aller Liebesbeteuerungen und Schwüre nicht zu ihm hielt.

Der Lichtschein meiner Taschenlampe streifte über das Skelett. Da sah ich einen eingemeißelten Satz im Sandstein:

„Die Frau, die es fertig bringt, diese gequälte Seele zu erlösen,  soll selbst eine verbotene Liebe kennen, und sie soll wissen, dass Liebe mehr vermag, als alles Geld und aller Ruhm auf dieser Welt“.

Waren das etwa die Schriftzeichen der jungen Frau, die ihren Geliebten im Stich gelassen hat?

Nachdem ich die Gebeine aus dem porösen Stein gelöst hatte, fielen sie in sich zusammen und wurden augenblicklich zu Staub. Das Wimmern verstummte, und mein Herz war plötzlich frei, frei  von Angst und Beklemmung. Der Fluch war nach Jahrhunderten endlich wirkungslos geworden.

Ich durchschritt ohne Furcht den engen und schmutzigen Gang bis ich zum Fluss gelangte. Die Sterne leuchteten mir entgegen und geleiteten mich zurück zum Parkplatz, wo ich glücklich und zufrieden in mein Auto stieg und heim fuhr. 

Am nächsten Tag fragte mich meine Kollegin Gerda: „Na, und was hast du gestern noch so gemacht?“

„Ach, nix weiter!“

Kontakt zur Autorin: Brigitte Richter -  richter-thierbach@gmx.net  
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