1. Roy Raperpotz und das
verbotene Tor
Roy war ein kleiner schüchterner
Junge mit blonden strubbeligen Haaren und einer seltsamen schwarzen Strähne
darin, die ihn jeden Morgen beim Kämmen dermaßen ärgerte, dass er länger
als all die anderen Jungen im Badezimmer brauchte um fertig zu werden.
Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte diese Strähne nicht
besiegen. Sie stand ab von seinen Haaren wie ein störrischer Esel, der
nicht hören will. All die anderen Kinder, besonders Greg, der größte
Junge im Waisenhaus St. Jones, lachten ihn aus deswegen. Und gerade heute
war diese Strähne noch widerspenstiger als sonst. So sehr er sich auch mühte,
so oft er auch versuchte sie flach an seinen Kopf anzuschmiegen, immer
wieder stellte sie sich auf und trotzte jeder Bewegung seines Kammes, als
ob sie sich heute ganz besonders hervor tun wollte, als ob es heute einen
ganz besonderen Grund dafür gäbe.
Von außen pochte bereits Greg an die Tür. "He, Raperpotz! Roy Raperpotz! Wenn du nicht gleich raus
kommst, dann kannst du für immer drin bleiben."
Um seine Worte zu betonen stieß er noch einmal kräftig mit dem Schuh
gegen die Tür. "Hast du mich verstanden, Raperpotz?"
Roy packte hastig seine Sachen zusammen. Er hasste es so genannt zu
werden. Immer wieder hänselten ihn die Kinder wegen seines Namens. Raperpotz.
Roy Raperpotz. Dies war wirklich ein sehr seltsamer Name. Roy
Raperpotz. Doch solange er denken konnte hieß er schon so. So lange er
denken konnte, lebte er schon in diesem Waisenhaus, weit außerhalb der
Stadt, zusammen mit all den anderen Kindern, die kein zu Hause mehr
hatten. Er wusste nicht wer seine Eltern waren, noch wusste er, wo er
hingehörte. Keiner hier konnte ihm das sagen, und keiner wusste wie er
eigentlich in dieses Waisenhaus gekommen war, nicht einmal Direktor Finlox.
Roy öffnete die Tür und schaute vorsichtig hinaus. Von der Seite packte
ihn Greg und zog ihn aus dem Bad. "Raperpotz. Du siehst aus wie ein
Strubbelpeter. „Was hast du eigentlich die ganze Zeit da drin
getrieben?" Er stupste ihn in die Seite. "Wegen dir werden wir
noch alle zu spät zum Frühstück kommen."
Danach schob er Roy zur Seite und ging lauthals brüllend ins Bad.
Im Frühstücksraum waren bereits alle Kinder versammelt. Der Direktor,
Herr Finlox, ein finster rein blickender knorriger Mann, schritt vor den
Kindern entlang. Bei jedem hatte er etwas auszusetzen.
"Steck dein Hemd richtig rein, Peter! Kopf hoch, Martin! Michael,
putz deine Schuhe!"
Kurz vor Roy stoppte er seinen langsamen und schleppenden Gang und schüttelte
mit dem Kopf. "Raperpotz, Raperpotz. Du wirst es wohl nie lernen.
Schau dich an. Weißt du wie du aussiehst? Wie ein Kind von der Straße.
Was soll nur aus dir werden?"
"Aber...", versuchte Roy sich zu verteidigen.
"Nichts aber.", unterbrach ihn Finlox. Jeden Morgen hast du die
gleiche Ausrede. Du gehst sofort in den Keller zu Morella und lässt dir
deine Harre schneiden, ist dass klar?"
Die Kinder im Saal verstummten. Jeder fürchtete sich vor Morella. Sie war
eine alte seltsame Frau, die im Keller von St. Jones hauste und nur selten
ins Haus, geschweige denn in den Garten kam. Einige behaupten sogar sie wäre
eine Hexe und hätte schon so manche kleine Kinder verhext. Alle Kinder,
sogar Greg hatten Angst vor ihr und jeder in dem Saal war froh, nicht an
Roy’s Stelle zu sein.
Finlox stand wartend vor Roy und musterte ihn scharf. Roy drehte sich um
und verließ den Frühstückssaal. Was sollte er tun? Was sollte er sagen?
Er musste sich fügen. So hungrig er auch war, er musste sich fügen. Und
da er zwar klein und schüchtern, aber keinesfalls feige war, schritt er
die kalten Stufen hinunter in den Keller zu Morella. Doch
eigenartigerweise, je tiefer er kam desto weniger Angst hatte er. Ja und
obwohl er im Halbdunkel nicht viel sah, so kam ihm die Umgebung sogar
irgendwie bekannt vor. Nur ein- oder zweimal war er in diesem Keller und
so richtig konnte er sich gar nicht mehr daran erinnern, auch nicht an
Morella, doch er spürte dieses eigenartige Gefühl, schon sehr oft hier
gewesen zu sein. Er konnte es sich nicht erklären. Unten angekommen
betrat er einen Raum, der durch ein im Kamin brennendes Feuer hell
erleuchtet war, so dass er an den Wänden Regale mit seltsam anmutenden Gläsern
sehen konnte. In der Mitte stand ein großer hölzerner Tisch, um den
herum vier Stühle angeordnet waren.
Vor dem Kamin stand gebückt eine Frau mit grauem wallenden Haar.
"Komm ruhig näher, Roy Raperpotz. Ich habe schon auf dich gewartet.
Du solltest eigentlich schon längst hier unten sein, schon vor Wochen.
Was hat dich aufgehalten?"
Roy wusste nicht so recht was er erwidern sollte. "Direktor Finlox
hat mich eben erst hier herunter geschickt. Sie sollen mir meine Haare
schneiden."
"Finlox, dieser Trottel.", erwiderte Morella empört, ohne sich
vom Kamin weg zu drehen. "Haare schneiden. Ist das sein einziges
Problem? Haare schneiden? Der hat keine Ahnung von dem, was hier vor sich
geht. Setz dich Roy."
Neugierig schaute sich Roy in dem Raum um. Als er sich setzte und wieder
zum Kamin schaute war Morella jedoch plötzlich verschwunden. Wie vom
Erdboden verschluckt. Er schaute in jede Richtung und in jede Ecke, doch
er konnte sie nicht mehr sehen. Er war ganz alleine. Dort saß er nun und
wartete und wusste nicht was er tun sollte. Es saß dort bestimmt bis
Mittag, doch es geschah nichts. Morella war verschwunden und kam auch
nicht wieder zurück, und so wartete er weiter bis es schon fast dunkel
war, denn Direktor Finlox hatte ihm eindeutig erklärt, dass er ohne einen
neuen Haarschnitt nicht aus dem Keller zu kommen brauchte. Zum Glück fand
er ein paar Äpfel und einen Kanten Brot in einem der Regale, so dass er
seinen Hunger stillen konnte, und er leerte einen Krug Wasser, der auf dem
Tisch stand. Doch allmählich begann er sich Sorgen zu machen, dass
Morella heute gar nicht mehr zurück kommen würde, als plötzlich eine
leise, schnurrende Stimme erklang.
"Euer Majestät! Ein Glück, dass ich dich gefunden habe."
Roy schaute sich um. Es war niemand zu sehen. In der Ecke saß nur ein
schwarzer Kater mit ein paar weißen Harren an der Kehle und schaute ihn
mit freundlichen Augen an. Sonst war niemand weiter da. Aber woher kam
dann diese Stimme, diese Stimme, die ihn mit Majestät ansprach.
"Du kannst dir nicht vorstellen wie lange ich dich gesucht habe, Euer
Majestät. Endlich habe ich dich gefunden."
Tatsächlich. Es war dieser Kater, der da zu Roy sprach. Roy konnte kaum
seinen Augen und Ohren trauen. War dies hier wirklich eine Hexenküche mit
sprechenden Tieren?
"Du musst mir helfen. Du bist meine letzte Hoffnung. Du bist unsere
letzte Hoffnung."
"Bist du das, der da zu mir spricht?", fragte Roy ungläubig den
Kater.
"Ja, natürlich. Ich bin es. Erkennst du mich denn nicht?"
"Nein. Wer bist du?", fragte ihn Roy erstaunt.
"Ich bin’s, Racket. Dein ergebener Diener. Aber ja, ich hätte es
mir denken müssen. Du kannst mich nicht erkennen in dieser Gestalt. Ich
vergesse immer wieder, dass ich ein Kater bin."
"Sollte ich dich kennen?", fragte Roy immer erstaunter.
"Oh, ja. Natürlich. Wir sind die besten Freunde. Erinnerst du dich
nicht? Du musst dich doch erinnern. Wir waren jeden Tag zusammen. Du weißt
schon, damals in Traumania. Bis dieser große Regen kam, und unsere Welt
zu zerfallen begann."
"Wovon sprichst du da? Ich kann mich an keinen Regen erinnern."
"Du weißt wirklich nichts davon? Du hast alles vergessen Roy. Oh,
wir müssen uns beeilen. Wir müssen zurück in unsere Welt, bevor es zu
spät ist, wenn es jetzt nicht schon zu spät ist. "
Roy war sehr aufgeregt. "In unsere Welt? Du weißt woher ich
komme?"
"Ja, natürlich weiß ich es", schnurrte Racket, "Du bist
Roy Raperpotz. Der jüngste Spross der königlichen Familie von Traumania.",
Racket verneigte sich tief vor Roy. "Und seit dem Regen hast du diese
schwarze Strähne, die dir übrigens sehr gut steht, meint zumindest Romy.
Na ja. Da kann man wohl geteilter Meinung sein."
"Romy?", fragte Roy erneut sehr aufgeregt, denn nun schien er
sich doch an etwas zu erinnern.
"Sag bloß, du hasst auch Romy vergessen? Oh, wir müssen uns
wirklich beeilen. Komm mit!"
Racket lief zu einer Seitentür in der hinteren dunklen Ecke des Raumes,
die Roy vorher gar nicht wahrgenommen hatte, und plötzlich standen sie
mitten im Garten hinter dem Waisenhaus. Er lief weiter bis hin zu der
Hecke mit den großen Büschen am anderen Ende des Gartens. Als Racket
unter der Hecke hindurch schlüpfen wollte stockte Roy.
"Wir dürfen nicht hinter diese Hecke. Direktor Finlox hat uns streng
verboten hinter diese Hecke zu gehen."
"Vergiss Direktor Finlox, Roy. Wir werden bald zu Hause sein.
Komm!"
Aus irgendeinem Grunde, wenn sie sonst auch überall durch das Gelände
strohmerten, so hielten sich doch alle Kinder aus dem Waisenhaus St. Jones
fern von dieser Hecke, und es ist ihnen nie in den Sinn gekommen dieses
Verbot zu missachten. Auch jetzt beschlich Roy ein ungutes Gefühl, das er
nicht so recht beschreiben konnte. Da er jedoch ein mutiger Junge war
folgte er dem Kater, der sich Racket nannte, und das unangenehme Gefühl
wich schnell einem neuen, wunderbaren Gefühl, so wie er es noch nie zuvor
erlebt hatte, doch aufgrund vieler Bücher die er gelesen hatte sofort
erkannte. Es war das Gefühl der Heimat, das Gefühl nach Hause zu kommen.
Und mit pochendem Herzen rann er hinter Racket her, der durch ein Loch
unter der Hecke schlüpfte.
Hinter dem letzten großen Busch verborgen lag ein kleiner Pavillon. Die
Mauern waren bereits vergilbt und der Putz bröckelte von den Wänden. Der
Eingang war gerade groß genug, so dass Roy problemlos hindurch gehen
konnte. Racket tippte mit seiner Pfote gegen einen Stein in der Wand und
ein seltsames Licht erstrahlte plötzlich und erhellte den gesamten
Pavillon. Fast im selben Augenblick erklang eine tiefe Stimme direkt vor
ihnen.
"Wer stört die Ruhe des Wächters des verbotenen Tores?"
"Miau. Ich bin es, Racket.", hauchte sanft der Kater
ehrerbietungsvoll.
"Ach du bist es schon wieder. Du wirst es wohl nie aufgeben. Hast du
das Rätsel gelöst?"
"Nein.", antwortete Racket etwas verärgert. "Aber ich habe
einen Freund mitgebracht, ein Mitglied der königlichen Familie, siehst
du? Es ist Roy Raperpotz."
"Hm. Ja. Ich sehe. Es ist wirklich Roy Raperpotz. Er trägt die
schwarze Strähne im goldenen Haar. Hm. Trotzdem muss auch er das Rätsel
lösen, um durch das Tor zu gehen."
"Ja, ja.", erwiderte Racket eifrig. "Stell ihm die Frage.
Er wird sie beantworten. Er wird es wissen. Ich weiß es."
"Also gut.", ertönte die Stimme, jetzt sogar noch tiefer als
vorher. "Höre mir aufmerksam zu mein junger Freund:
Es
ist ein Ort, den alle Menschen kennen.
Ob gut, ob böse, sie alle ihn Ihr eigen nennen.
Es ist ein Ort, an dem sich jeder Wunsch erfüllt,
ein Mantel, in den man sich des Nächtens hüllt,
dort wo Erwachs‘ne wie die Kinder tollen,
und nie mehr von dort gehen wollen.
Ein Ort, an dem es keine Grenzen gibt,
an dem nur eins, der eigne Wille siegt,
zu dem man geht mit Freuden fort.
Sag mir, was ist das für ein Ort?
"Kennst du die Antwort
Roy Raperpotz? Sag sie mir schnell, und ich öffne dir mein Tor."
Roy dachte angestrengt nach. Ein Ort, den alle Menschen kennen? Ein
Mantel, in dem man sich des Nächtens hüllt und wo sich jeder Wunsch erfüllt?
Was konnte das nur sein?
Von der Seite störte ihn Racket beim Nachdenken. "Weißt du es Roy?
Du weißt es doch, nicht wahr? Sag es dem Wächter. Du musst es doch wi...."
Doch plötzlich erlosch das Licht an der Mauer und Racket sprang
blitzartig durch eine Seitentür aus dem Pavillon. Von der anderen Seite
kam Direktor Finlox in den Pavillon herein gepoltert.
"Raperpotz, Roy
Raperpotz. Was machst du hier? Du solltest dir doch deine Haare
schneiden lassen, du Lümmel. Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?"
Er packte Roy am rechten Ohr und zerrte ihn aus dem Pavillon. "Ihr
werdet es wohl nie lernen. Ihr solltet doch nicht hier hinter diese Hecke
gehen. Habe ich euch das nicht tausendmal gesagt? He?"
Noch immer hielt er Roy fest am Ohr, so das der Arme Junge vor Schmerzen
sein Gesicht verzog und zerrte ihn ins Haus.
"Wir werden morgen weiter darüber reden. Jetzt aber ab ins Bett!
Los!"
Er schubste ihn in sein Zimmer, in dem Greg schon hemmungslos schnarchte
und schloss die Tür. Roy stieg leise in sein Bett. Doch immer wieder
musste er an Racket und an diese geheimnisvolle Welt denken von der er ihm
erzählte hatte, und an das Rätsel, dessen Lösung ihnen das verbotene
Tor zu dieser Welt öffnen sollte, zu einer Welt die angeblich seine
eigene sein soll. Doch dann plötzlich wusste er die Lösung des Rätsels
und zufrieden und voller Erwartungen an den nächsten Tag schlief Roy todmüde
unter seiner warmen und kuscheligen Decke ein.
2. Roy Raperpotz und das
Orakel Guckifix
Am nächsten Morgen gab sich
Roy weniger mühe seine Strähne glatt zu kämmen. Er wusste nun, dass es
eine Ursache dafür gab, und er wusste nun, dass er ein Mitglied der königlichen
Familie war. Nun ja. Aber welcher königlichen Familie eigentlich, und was
für ein Königreich sollte das sein? Voller Ungeduld wartete er den
ganzen Tag darauf, dass Racket sich bei ihm melden würde, doch er lies
sich nicht blicken. Als ob gestern nichts geschehen war verlief der Tag
wie all die anderen. Selbst Direktor Finlox schien sich an nichts mehr zu
erinnern, denn er sprach ihn weder auf seine immer noch zerzausten Haare
an, noch verlor er auch nur ein Wort über den gestrigen Abend im Pavillon
hinter der Hecke. Roy wunderte sich sehr darüber, und langsam begann er
schon daran zu zweifeln, den gestrigen Tag überhaupt erlebt zu haben.
Doch als es zu dämmern begann, und alle Kinder aus dem Garten ins Haus
zurückkehrten, hörte er von der Seite ein leises Miauen, und er meinte
zu hören wie jemand seinen Namen rief. Erschrocken blieb er stehen und
drehte sich um. Außer ihm schien niemand weiter diese Stimme gehört zu
haben, denn alle Kinder liefen weiter und verschwanden bald im Haus, so
dass Roy bald ganz alleine im Garten stand.
"Racket? Bist du das?", fragte er vorsichtig ins Dunkel.
Von der Seite kam Racket auf Roy zugesprungen. "Roy! Euer Majestät!
Wir müssen uns beeilen." Dann schaute er Roy mit großen Augen an.
"Weißt du die Lösung des Rätsels?"
Roy wusste nicht so recht was er erwidern sollte. "Ja, ich denke
schon."
"Ja, Ja. Du wirst es schon wissen. Du bist schließlich ein Mitglied
der königlichen Familie. Du bist schließlich Roy Raperpotz.",
antwortete Racket, sich seiner Sache völlig sicher.
"Was ist das für eine Familie?", fragte ihn Roy neugierig.
"Sind es meine Eltern. Leben meine Eltern noch?"
"Hm. Na ja. Das ist so eine Sache.", antwortete Racket verlegen.
Doch Roy wollte es nun wissen. "Was ist das für ein Königreich? Du
musst das doch wissen."
"Na ja. Das ist so eine Sache. Ich weiß es nicht."
"Wie meinst du das, du weißt es nicht. Du weißt doch auch, dass ich
ein Mitglied der königlichen Familie bin."
"Ja, das schon. Aber in dieser Welt hier ist alles anders. Hier weiß
man nur, was man wissen muss, nicht mehr."
"Das verstehe ich nicht."
"Komm mit und du wirst es gleich verstehen. Wenn wir durch das Tor
gehen wirst du alles verstehen." Racket verschwand wieder hinter dem
großem Busch am Ende der Hecke, und Roy beeilte sich ihm zu folgten. In
dem Pavillon legte er seine Pfote auf den Stein und schaute Roy mit
erwartungsvollen Augen an. "Bist du bereit, Euer Majestät?"
"Ja.", erwiderte Roy, fest entschlossen durch das Tor in diese
geheimnisvolle Welt zu gehen.
Die tiefe Stimme des Wächters ertönte. "Wer stört die Ruhe des Wächters
des verbotenen Tores?"
"Wir sind es. Racket
und Roy Raperpotz."
"Ach, ihr seid es schon wieder.", antwortete der Wächter
sichtlich verärgert, wieder in seiner Ruhe gestört zu werden. "Habt
ihr das Rätsel gelöst?"
"Ich denke schon.", erwiderte Roy, nun doch etwas unsicher.
"Nun gut.", erhob der Wächter wieder seine Stimme.
"Nenn mir den Ort, zu dem die Menschen täglich ziehn. Nenn mir das
Land, in das sie jede Nacht entfliehn, in dem sich jeder Wunsch erfüllt,
in dem man nur mit Phantasie umhüllt, das bringt in alle Kinderaugen
Sand. Sag mir, was ist das für ein Land."
Mit fester Stimme antwortete Roy dem Wächter des verbotenen Tores.
"Ich weiß welches Land es ist. Es ist das Land der Träume."
"Potz blitz!", ertönte die tiefe Stimme des Wächters.
"Ja, das ist es. Genau. Das Land der Träume."
Racket schau mit großen Augen zu dem Wächter. "Wie? Ist es so
einfach? Das Land der Träume? Das hätte ich auch gewusst."
"Ich habe nie gesagt, dass es schwierig ist. Doch nun hinweg mit
euch. Ich habe noch andere Dinge zu tun. Doch denkt stets daran, wer das
Land der Träume hier betrat, wird brauchen einst des Wärters
Rat..." Die Stimme des Wächters wurde immer leiser, so das Roy ihn
kaum noch verstehen konnte. " ... denk stets an des Rätsels Lösung
hier, das Hilfe bringen wird in Not zu dir..."
Doch mehr konnte Roy nicht mehr hören, denn die Fugen der Mauer begannen
zu verschwimmen und wie durch einen Schleier hindurch sah Roy die Umrisse
eines Weges auf den Racket schon hinein gesprungen war. Ohne auf die
weiteren Worte des Wächters zu achten folgte er ihm, und es begann eine
phantastische Reise in eine Welt, die Roy schon so oft in seinen Träumen
gesehen, die er aber noch nie zuvor verstanden hatte. Sofort nachdem sie
durch das Tor gegangen waren verwandelte sich Racket in einen kleinen
Jungen, etwas kleiner sogar noch als Roy, mit schwarzen Haaren und
lustigen runden braunen Augen, die strahlten vor Freude endlich wieder zu
Hause zu sein. Er sprang lauthals in die Luft und ruderte mit seinen
Armen, als ob er gleich abheben und in die Wolken fliegen wollte.
Neugierig schaute sich Roy um. Sie standen auf einem steinernen Weg mit
herrlichen großen Bäumen zu beiden Seiten und die Luft duftete nach Frühling
und Sonne. Weite Wiesen mit wunderschönen Blumen, die lustig in einer
sanften Brise hin und her schwankten und miteinander zu spielen schienen,
erstreckten sich bis zum Horizont. Eine Kutsche, nun ja eigentlich war es
eine Wolke, die die Gestalt einer Kutsche angenommen hatte, schwebte vor
ihnen auf dem Weg und wartete nur darauf, sie durch dieses Meer der
Phantasie, durch diese wunderbare Traumwelt zu tragen. Nur hinten, weit
weg in der Ferne stand eine Wolke am Himmel, die anders als all die
anderen war, die dunkel und finster erschien, jedoch so weit weg war, dass
keiner der beiden Jungen sie bemerkte.
Racket sprang noch immer vor Freude in die Luft. "Roy, wir haben es
geschafft. Wir sind wieder zu Hause. Jetzt wird alles gut."
"Wo sind wir hier?", fragte Roy verwirrt. "Irgendwie kommt
es mir bekannt vor. Doch ich weiß nicht wo wir sind."
"Wie? Du weißt immer noch nicht wo wir sind?", fragte Racket
erstaunt.
"Nein.", antwortete ihm Roy.
"Wie kann das sein? Wir sind zu Hause, Roy. Das ist dein zu Hause.
Erkennst du es nicht?"
Roy schüttelte traurig seinen Kopf. "Ich weiß es nicht mehr."
Racket packte Roy am Ärmel und zog ihn zu der Kutsche die vor ihnen
stand. "Es ist noch schlimmer geworden, als zuvor. Wir müssen sofort
zu Guckifix."
"Guckifix?", fragte Roy erstaunt.
"Ja, unser Orakel Guckifix. Den kennst du auch nicht?"
"Nein.", antwortete ihm Roy traurig.
"Aber den kennt hier doch jeder. Er ist das königliche Orakel. Du
musst ihn doch kennen.", Racket konnte nicht glauben, dass Roy alles
vergessen haben sollte.
"Tut mir leid,
Racket. Ich kenne ihn nicht."
Nachdenklich schüttelte Racket seinen Kopf. "Also gut. Komm
mit." Racket begann sich nun wirklich ernsthaft Sorgen zu machen. Roy
hatte wirklich alles vergessen. Sie stiegen beide in die Kutsche und
Racket befahl der Wolke sie zu Guckifix zu bringen. Sie flogen den
steinigen Weg entlang, vorbei an den majestätischen Bäumen, über
riesige wunderschöne Wiesen, mit Blumen, die Roy noch nie zuvor in seinem
Leben gesehen hatte, und die Blumen lächelten ihnen freundlich zu und
wiegten sich in der Sonne, die ihre herrlichen Farben zum leuchten
brachte, und Roy meinte zu hören wie sie tuschelten, als ihre Kutsche ab
uns zu in ihre Nähe kam. "Sieh nur, das ist Roy Raperpotz. Siehst du
diese schwarze Strähne. Ja, er ist es. Wirklich? Ja, er ist es wirklich. Ah.
Roy Raperpotz. Er wird den Regen besiegen. Meinst du? Ob er es
schaff wird? Ja er wird es schaffen, ganz bestimmt."
Doch Roy verstand nicht, was sie meinten, noch nicht. Und so sah er
fasziniert dem Drachen zu, der plötzlich vor ihnen auf einer Insel
inmitten eines riesigen Sees Feuer spie, obwohl weit und breit niemand zu
sehen war. Und sie flogen weiter über das Wasser, bis sie ein großes
dreimastiges Schiff erblickten, auf dessen Bug ein Mann stand und
nachdenklich in die Ferne schaute.
"Wer ist das?", fragte Roy neugierig.
"Das ist Kolumbus?"
Nur schwach konnte sich Roy an die Geschichtsstunden in St. Jones erinnern
und an einen Mann namens Christopher Kolumbus. Doch wollte es ihm nun par
du nicht einfallen. "Wer ist Kolumbus?", fragte er deswegen
Racket.
"Kolumbus ist ein Mann mit großen wunderbaren Träumen. Er fährt über
das weite Meer einem unbekannten Ziel entgegen. Nur die besten Schüler dürfen
ihm seine Träume bringen." Fasziniert schaute Roy dem Schiff und dem
Mann darauf zu, bis er langsam am Horizont verschwand. Uns sie flogen
weiter über einen Wald, der soeben noch grüne Blätter hatte und im nächsten
Augenblick in den schillerndsten Farben des Herbstes erstrahlte, bis er
alle seine Blätter abwarf, und wenige Augenblicke später wieder zu grünen
begann. In mitten dieses Waldes lebte ein Riese, der zwar auf einem Stein
saß, aber dennoch den Wald um Kopfeshöhe überragte. Er grüßte höflich
als Racket ihm einen guten Tag wünschte, doch schien er irgendwie bedrückt
zu sein, denn sein Gesicht war traurig und seine Augen müde.
"Warum ist dieser Riese so traurig?", fragte Roy.
"Es ist der Regen. Er macht uns allen zu schaffen."
Als Roy sich aus der Kutsche beugte sah er, dass der gesamte Wald unter
Wasser stand, und das auch die Füße des Riesen von Wasser bedeckt waren.
"Was ist das für ein Regen?", fragte Roy weiter. Doch noch
bevor Racket antworten konnte, flog die Kutsche mitten auf einen Berg zu.
Roy glaubte schon sie würden an dieser felsigen Wand zerschellen, als
sich die Wand vor ihnen öffnete und den Weg in einen langen Tunnel
freigab. Roy spürte die Kälte des Felsen um ihn herum. Er konnte nichts
mehr sehen. Es war stockfinster. Plötzlich erschien ein gleißendes Licht
am Ende des Tunnels und die Kutsche schoss wieder aus dem Berg heraus auf
eine Lichtung, die hoch oben auf dem Berg sein musste. Doch da selbst hier
noch ringsherum Gipfel in die Höhe schossen, war es ruhig und friedlich.
Die Kutsche hielt auf einem Weg, der zu einem seltsamen Gebilde führte.
Dann begann sie sich plötzlich in lauter kleine Wölkchen aufzulösen, so
dass Roy und Racket schnell heraus springen mussten, um nicht auf den
Hosenboden zu fallen.
Racket lief munter den Weg entlang. "Komm schon Roy! Wir müssen dort
hinauf."
Sie gingen mit kleinen Wolken zwischen ihren Füßen zu jener seltsamen
Gestalt, die, je näher sie kamen, wie eine riesige Uhr aussah. Doch
konnte Roy keine Zeit ablesen, denn nirgendwo war ein Zeiger zu entdecken,
und er wunderte sich sehr darüber.
"Was ist das für eine seltsame Uhr, an der man keine Zeit ablesen
kann?", fragte er Racket.
"Das ist die Uhr des Guckifix.", antwortete Racket. "Die
einzige Uhr im ganzen Land der Träume. Sie zeigt keine Zeit, weil für
jeden in seinen Träumen die Zeit anders verläuft. Für einen schneller,
für den anderen langsamer. Hattest du noch nie dieses Gefühl, wenn du
nachts träumst?"
"Doch, irgendwie schon.", musste Roy zugeben. "Aber wozu nützt
eine Uhr, wenn man keine Zeit darauf ablesen kann."
"Nur Guckifix kann an dieser Uhr die Zeit lesen. Er ist unser Orakel.
Nur er weiß es.", antwortete Racket nun ernst.
Sie waren schon fast an der großen Uhr angekommen, als plötzlich eine
leise, quieksende Stimme ertönte. "Au!
Du Tolpatsch! Pass doch auf wo du hintrittst!"
Roy sprang vor Schreck zur Seite.
"Könnt ihr denn nicht aufpassen, wo ihr lang geht mit euren großen
Füßen."
Es war eine dieser kleinen Wölkchen, die sich über Roy beschwerte, als
er nichtsahnend durch sie hindurch treten wollte.
"Entschuldige bitte, ich wusste nicht, dass ich dir weh tue."
"Paperlapap, Entschuldigung. Ist das vielleicht ein Art durchs Leben
zu gehen? Mach doch deine Augen auf. Was wollt ihr eigentlich hier?"
"Wir suchen Guckifix. Weißt du wo er ist?"
"Was wollt ihr denn von ihm? Ihr Dreikäsehoch."
"Das geht dich gar nichts an.", antwortete Racket dieser frechen
Wolke.
"Oh, ihr wollt mir nicht sagen, was ihr von ihm wollt. Bitte sehr.
Ihr Geheimniskrämer. Dann könnt ihr lange suchen. Von mir jedenfalls
werdet ihr nichts erfahren."
Aus dem Inneren der Uhr ertönte eine freundliche jedoch auch strenge
Stimme.
"Schluss jetzt, Schössel. Las die Jungen rein." Widerwillig öffnete
das kleine Wölkchen mit dem Namen Schössel die Tür zu der Uhr und
babbelte dabei missgelaunt vor sich hin. "Diese Lümmel wollen mir
nicht sagen was sie wollen. Diese Dreikäsehoch. Denen werde ich’s noch
zeigen."
Als Roy die Uhr betrat wurde plötzlich der Innenraum größer und größer,
so dass sie bald in einem gemütlichen und geräumigen Zimmer standen. An
jeder Wand hingen Zahnräder, und überall waren tickende Instrumente zu
sehen. An der Hinterwand befestigt hing eine Wage, vor der ein alter Mann
mit einem weißen Bart, der fast bis auf den Boden reichte, eifrig damit
beschäftigt war, glitzernde Sterne auf eine Seite der Wage zu schütten.
"Komm herein Roy Raperpotz.", winkte er Roy zu, ohne sich dabei
umzudrehen. "Ich habe schon auf dich gewartet. Morella sagte mir,
dass du bald kommen würdest."
"Sie kennen Morella?", fragte Roy erstaunt.
"Oh, ja. Natürlich kenne ich sie. Und du wirst sie auch bald wieder
sehen, aber setzt dich doch und dein Freund Racket auch."
Racket wurde ganz verlegen. "Meister Guckifix. Ich habe ihn hier her
geholt, zurück nach Hause, so wie ihr es mir aufgetragen habt. Aber wir
haben ein Problem. Er kann sich an nichts erinnern."
"Ich weiß, mein Freund. Es ist nicht deine Schuld, dass er sich an
nichts erinnern kann. Es ist dieser Regen."
Guckifix hatte nun wohl genug Sterne auf die Wage gelegt, denn sie bewegte
sich nicht mehr und zufrieden drehte er sich zu den beiden Jungen um.
"Weißt du wer du bist?", fragte er Roy.
Traurig antworte Roy ihm. "Nein. Ich wohne im Waisenhaus St. Jones,
weil meine Eltern tot sind. Ich weiß nicht wer sie waren. Ich weiß nicht
wer ich bin."
"Weißt du wo du bist?", fragte ihn Guckifix weiter.
"Im Land der Träume?", antwortete Roy vorsichtig.
"Ja, im Land der Träume.", erwiderte ihm Guckifix. "In
deinem Reich. Es ist dein zu Hause. Mit vielen Untertanen und fleißigen
Helfern. Es ist das Land, wo alle Menschen sind des Nachts. Das ist dein
Reich, und das Königreich deiner Familie."
"Aber warum weiß ich dann nichts davon? Nichts von meiner Familie,
nichts von meinen Eltern.", fragte Roy sehr aufgeregt. "Es
begann vor einiger Zeit, da kam ein fürchterlicher Regen von den Grenzen
unseres Reiches, und begann alle Träume hinweg zu wischen. Niemand wusste
woher und niemand wusste warum. Dein Vater schickte seine besten Männer
gegen diesen Regen, doch alle, die ihn erreichten, vergaßen warum man sie
los schickte, vergaßen alles um sich herum, und vergaßen schließlich
sogar sich selbst. Der Regen kam immer näher und stand kurz vor den
Mauern der königlichen Stadt. Eines Tages kam er über die Mauern in den
königlichen Garten und du, mein Junge, bist hinein geraten in diesen
Regen und alle Erinnerungen begannen zu schwinden und fast wärst du
geworden wie all die anderen. Diese Strähne in deinen Haaren hast du seit
jenem Tag. Der Regen hat die Farbe heraus gewaschen. Doch deine Eltern
haben dich gefunden bevor es zu spät war und haben dich in diese Welt
dort draußen gebracht. Sie haben dich versteckt vor dem großen Regen bis
die Zeit gekommen ist, sich ihm entgegen zu stellen. Und diese Zeit ist
jetzt gekommen, mein Junge."
"Wo sind meine Eltern jetzt?", fragte Roy begierig mehr über
seine Familie zu erfahren.
"Deine Eltern sind noch immer in der anderen Welt. Doch je länger
sie weg sind aus unserem Land, um so mehr vergessen sie, und um so
leichter hat es der Regen alle verbleibenden Erinnerungen zu verwischen.
Du musst dich beeilen, um sie zu retten."
"Aber wie soll ich das tun?"
"Du musst den heiligen Somnel finden. Nur dann kannst du den Regen
besiegen. Nur dann kannst du deine Eltern retten."
"Was ist den der heilige Somnel?" Roy hatte noch nie davon gehört.
"Der heilige Somnel ist der glitzerndste und schillerndste Traum, den
es gibt in unserem Land. Er ist es wonach sich alle Menschen sehnen."
"Aber wo finde ich denn diesen Somnel?", fragte Roy unglaublich
aufgeregt.
"Ich weiß es nicht, mein Junge. Sotalex ist der Hüter des heiligen
Somnel. Zu ihm musste du finden in deinen Träumen, ihn wirst du sehen,
wenn dein Herz rein ist und dein Geist klar, wenn du den Menschen ihre Träume
zurück bringen kannst, nur dann wirst du ihn finden."
"Aber wie soll ich den Menschen ihre Träume bringen. Ich weiß nicht
wie das geht."
Guckifix schüttelte nachdenklich sein weißes Haupt. "Dann musst du
es lernen. Und du musst dich beeilen, Roy."
"Wie soll ich es lernen und wo? Ich verstehe doch nichts davon."
"Es gibt noch eine Schule. Eine einzige, die noch verschont wurde. Wo
der Regen noch nicht sein fürchterliches Werk vollbringen konnte. Es ist
eine ganz besondere Schule. Es ist die Schule Raperpotz."
"Aber das ist ja ...", fiel Roy Guckifix ins Wort.
"Ja, Roy. Du hast den gleichen Namen wie diese Schule. Dort musst du
hin und dort musst du es lernen. Doch du musst dich beeilen. Wir haben
nicht mehr sehr viel Zeit."
"Wie soll ich dorthin finden? Ich weiß doch nicht wo diese Schule
ist."
"Schössel wird dich begleiten. Sie wird dir zeigen wo sie ist, und
sie wird dir helfen den Somnel zu finden."
"Was ich? Wieso ich?", empörte sich Schössel von der Seite.
"Wieso muss ich denn mit, mit diesen zwei halben Portionen."
"Sie werden deine Hilfe brauchen, Schössel. Also benimm dich."
"Die werden es doch nie schaffen. Ich will nicht mit. Ich will lieber
hier bleiben."
"Du gehst mit. Keine Widerrede. Und jetzt legt euch hin und schlaft.
Ihr habt morgen einen weiten Weg vor euch."
Widerwillig flog Schössel hinter eines der großes Zahnräder und schloss
die Augen. "Immer muss ich den Karren aus dem Dreck ziehen. Warum nur
immer ich?" Doch Roy hörte sich schon gar nicht mehr. Zu aufregend
war dieser Tag und zu müde war er jetzt. Doch nun hatte er endlich etwas
über seine Eltern, über sich selbst erfahren. Und voller Erwartungen an
den nächsten Tag schlief Roy neben Racket in einem großen Himmelbett
ein, das Guckifix auf dem Boden der Uhr aufgeschlagen hatte.
3. Roy und die Schule
Raperpotz
Als Roy am nächsten Morgen
erwachte musste er sich zunächst umschauen, wo er überhaupt war. Er
hatte so tief und fest geschlafen, dass er es wirklich nicht mehr wusste.
Er lag in einem Bett aus purpurnem Samt und als er seine Decke zur Seite
schlagen wollte, gab sie eigenartige Töne von sich. "Hm. Jetzt schon
aufstehen, Roy Raperpotz. Vielleicht noch ein halbes Stündchen?" Und
da wusste Roy wieder wo er war. Er war in der Schule Raperpotz. Und
schnell kamen die Erinnerung an den gestrigen Tag wieder zurück. Racket
musste schon unterwegs sein, denn sein Bett war leer. Aufgeregt stand Roy
auf, wusch sich und wollte sich gerade anziehen als die Tür aufflog.
"Roy, schnell, du musst mitkommen.", Romy stürzte in das
Zimmer, drehte sich jedoch sofort verlegen zur Seite. "Oh,
entschuldige. Ich dachte du wärst schon angezogen."
"Schon gut. Ich bin gleich fertig."
Hastig zog sich Roy an und folgte Romy nach draußen, wo bereits mehrere
Kinder versammelt waren. Einige von ihnen schrieen wild umher. Morella war
zurückgekehrt und irrte nun völlig wirr zwischen all den Kindern im Hof
herum. In ihren Haaren sah Roy überall schwarze Strähnen, solche, wie
auch er eine hatte, und ihr Mantel hatte überall tiefe Löcher. Roy ahnte
schon was geschehen war. Morella war gestern Nacht zu Spartakus geflogen,
um seinen Traum zu berichtigen. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, dass
sie nicht bemerkte wie der Regen langsam und schleichend auf sie zukam.
Eigentlich ist sie ein Meister des Träumelns und eine der Klügsten und
Weisesten im Ältestenrat Traumaniens. Aber gestern ärgerte sie sich
dermaßen über diesen Greg Haport, dass sie all ihre Vorsicht vergaß,
und alle Weisheit. Als sie den Regen sah, war es fast schon zu spät. Mit
letzter Kraft schleppte sie sich zurück hierher und irrte nun zwischen
all den Kindern herum. Niemand konnte ihr helfen, bis von der Seite ein
knochiger Mann herbei sprang und sie stützend unter die Arme nahm.
"Mein Gott. Morella. Wie konntest du so unvorsichtig sein. Wir werden
sie behandeln müssen!", rief er zwei anderen Männern zu, die aus
dem Keller gerannt kamen und zu dritt schafften sie sie in den Keller des
Schlosses.
"Wo bringen sie sie hin?", fragte Roy Romy.
"In dem Keller werden alle behandelt, die vom Regen getroffen
wurden."
"In dem Keller? Aber wie?"
"Ich weiß nicht. Ich war noch nie dort unten."
Aus dem Obergeschoss erklang eine Stimme. "Alle Schüler sofort in
die Klassenzimmer. Der Unterricht beginnt in zehn Minuten. Alle Erstklässler
melden sich bei Mrs. Weding im ersten Stock."
Erst jetzt fand Roy die Zeit sich umzublicken. Die Schule Raperpotz war
ein riesiges Schloss mit weiten Flügeln zu beiden Seiten, welche einen
großen Innenhof umschlossen. Die Türme konnte Roy nur sehr schlecht
erkennen, so hoch waren sie, und es schien ihm fast, als ob sie überhaupt
kein Ende hätten. Die Fenster hatten etwas magisches an sich. Sobald er
hinein schaute, sah er zwar ein Spiegelbild, doch es war nicht seines.
Auch wenn es seinen Bewegungen folgte, so sah er doch eindeutig einen ganz
anderen Jungen darin. Roy konnte sich nicht erklären wer dieser Junge
war, und warum er ständig seinen Bewegungen folgte. Doch jetzt hatte er
auch keine Zeit darüber nachzudenken. Er ging mit den anderen Kindern in
den ersten Stock, wo sie bereits von Mrs. Weding empfangen wurden. Mrs.
Weding war eine relativ junge, hübsche und sehr nette Frau. Aber
eigenartiger Weise hatte auch sie schon graue Haare, wie scheinbar alle
erwachsenen Menschen hier. Sie begrüßte alle Kinder mit einem
freundlichen Händedruck und ein paar persönlichen Worten und als Roy an
der Reihe war, nahm sie sich besonders viel Zeit.
"Sieh an. Da ist er ja. Der berühmte Roy Raperpotz. Ich hoffe es
wird dir hier gefallen bei uns."
"Ja. Ich denke schon.", erwiderte Roy verlegen.
"Gut. Setzt dich dort hin Roy."
Roy ging weiter und setzte sich neben Racket auf einen der Stühle, welche
im Kreis angeordnet waren. Ein paar der Kinder hatte er draußen schon
gesehen. Den kleinen schüchternen rothaarigen, mit dem Namen Sam, der
sich kaum traute den Mund aufzumachen. Und auch einen der beiden Jungen,
die mit Greg Haport zusammen waren, sein Name war Ed Fischer, betrat in
frechem Schritt das Zimmer. Als alle Schüler sich gesetzt hatten schloss
Mrs. Weding die Tür und nahm auf einem Stuhl in der Mitte platz.
"Wisst ihr warum ihr hier seid Kinder?"
"Wir wollen lernen, den Menschen ihre Träume zu bringen.",
antwortete ein Mädchen neben Roy.
"Ja, richtig Marie. Und weißt du auch wie wir das nennen?"
Doch noch bevor sie antworten konnte polterte es aus Racket heraus. "Träumeln,
wir nennen es Träumeln."
"Ja genau. Racket. Träumeln ist das richtige Wort dafür. Und wie träumelt
man richtig Racket? Kannst du uns dass sagen?"
"Ja...eh.., ich...", verlegen schaute er zum Boden. "Nein.
Ich weiß es nicht."
"Weiß es jemand?", fragte Mrs. Weding die anderen.
Doch niemand meldete sich.
"Roy. Kannst du uns sagen wie man träumelt?"
Was sollte Roy ihr schon antworten. Er war den ersten Tag in dieser Schule
und den dritten Tag in diesem merkwürdigen Land. Woher sollte er wissen
wie man träumelt? Aber er hatte es ja schon einmal gesehen und so
antwortete er. "Man fliegt mit einem Zaubermantel durch die Luft und
zerstreut Traumsand und feuert aus einer Kugel Blitze ab."
Mrs. Weding sah ihn erstaunt und gleichzeitig erschrocken an. "Woher
weißt du das Roy? So werden nur verbotene Träume geträumelt."
Roy sah wie Ed Fischer ihn durchdringlich anstarrte und dabei drohende
Worte mit den Lippen formte.
"Ich habe davon gehört.", log Roy, obwohl ihm dabei sehr
unbehaglich war. Aber er wollte nicht schon am ersten Tag Ärger bekommen.
"Vergiss ganz schnell, was du da gesehen hast Roy. So etwas ist
streng verboten hier in Raperpotz."
Dann fuhr sie wieder mit freundlichem Ton fort. "Aber es stimmt, dass
man zum Träumeln einen Traummantel und eine Kugel, eine Traumkugel, benötigt.
Weiß jemand wie diese Kugel heißt?" Fragend richtete sie sich an Ed
Fischer. "Ed?"
"Das ist ein Konkel."
"Ja richtig. Und was macht man damit?"
"Ich weiß nicht.", antwortete Ed in einer Art, die Roy merke
lies, das Ed schon ziemlich gut Bescheid wusste, was das Träumeln anging,
mehr als er bereit war zuzugeben. Da es sonst jedoch niemand wusste, erklärte
es Mrs. Weding. "Es ist eine Kugel mit der die Träume zu den
Menschen gebracht werden, das ist der Konkel. Ihr werdet später lernen,
wie man mit ihn benutzt. Aber etwas fehlt uns noch. Wir haben den
Traummantel, der uns zu den Menschen bringt und wir haben den Traumstaub
und den Konkel der die Träume weiter schickt. Was fehlt uns da noch?
Etwas, das all diese Dinge verbindet. Wer weiß es?"
Sie schaute in die Runde. "Sam? Weißt du es?"
"Ich..., Ich.... Nein.", sagte er schüchtern und blickte zu
Boden.
"Das ist nicht schlimm Sam. Du bist hier um es zu lernen. Es sind die
Traumsprüche. Unsere eigene Sprache, das Hunduisch. Es ist die Sprache
die alle Dinge miteinander verbindet. Erst sie bringt die Menschen in
unser Land, wo sie anfangen zu träumen. Die Traumsprüche verbindet die
Träume mit dem Konkel und schickt sie zu den Menschen."
Aufmerksam lauschten alle Kinder Mrs. Weding. "Hunduisch wird das
erste sein, das ihr lernen werdet. Wir werden morgen damit anfangen. Doch
jetzt werde ich euch die Schule zeigen."
Sie murmelte etwas und auf einmal begann sich das Zimmer zu drehen. Roy
sah wie sie sich nach oben durch das Haus bewegten und plötzlich über
der Schule Raperpotz schwebten. Und obwohl sie nun ganz oben waren konnte
Roy noch immer nicht die Türme sehen, die wahrhaftig irgendwo im Himmel
zu liegen schienen.
"So Kinder. Von hier aus seht ihr die ganze Schule. Sie wurde von
einem der größten Meister unseres Landes erbaut, von Meister Sotalex."
Roy horchte auf. Dies war der Name des Mannes, den Roy suchen sollte. Wie
Guckifix ihm prophezeite wird Sotalex ihm den heiligen Somnel geben können.
Und dieser Sotalex hatte Raperpotz erbaut? Roy nahm sich vor mehr darüber
herauszufinden. Doch nun hörte er weiter aufmerksam den Worten Mrs.
Wedings zu.
"Hinter der Schule befindet sich ein großes Feld. Dort üben die älteren
Schüler das Träumeln." Alle Kinder blickten nach hinten."
"Ah, wie ich sehe ist Mr. Finley gerade mit seiner Klasse dort. Na
ja. Viel scheinen sie bei ihm nicht gelernt zu haben."
Roy sah wie mehrere Gestalten in der Luft hin und her flogen und manche
von ihnen zusammenstießen und auf den Boden krachten. Doch kurz danach
schwebten sie schon wieder in der Luft, so dass anscheinend nichts
Ernsthaftes passiert war.
"So Kinder, jetzt werden wir noch durch einige Klassen gehen."
Schon während sie dies aussprach bewegte sich das Zimmer wieder nach
unten, stoppte und gab den Blick in eines der anderen Klassenzimmer frei.
"Dies ist die Klasse in der der richtige Umgang mit Traumsand gelehrt
wird und hier hinten..." Sie drehte sich um und alle Schüler taten
es ebenfalls. ".. hier hinten seht ihr die Klasse für Tierträume,
daneben die für Kinderträume und direkt darunter ist die für
Erwachsenenträume, aber dorthin werdet ihr erst viel später
kommen."
Und so zogen sie durchs ganze Haus. Mrs. Weding zeigte ihnen die Klassen für
sämtliche Träume, für Träume der Vergangenheit, der Gegenwart und der
Zukunft, sie zeigte ihnen Klassenräume in denen Hunduisch gelehrt wurde
und wie man den Konkel und den Zaubermantel richtig benutzt, sie zeigte
ihnen die Klasse für Traumgeschichte und für die Geschichte der
Menschheit, was ein besonders schweres und wichtiges Fach sei, wie sie
betonte. Roy konnte sich all diese Fächer kaum merken. Diese Schule
musste unzählige Klassenzimmer haben, so das Roy schon daran zweifelte,
dies jemals alles zu erlernen. Aber dann kamen sie schließlich doch in
dem letzten Zimmer an, und Mrs. Weding verkündete feierlich. "In
diesem Zimmer, meine Lieben, wird übermorgen die Aufnahmeprüfung
stattfinden."
Ein Raunen ging durch die Schar der Schüler. Racket wurde käseweiß.
"Übermorgen schon? Oh Gott. Ich werde bestimmt wieder
durchfallen."
Das Zimmer war winzig klein und hatte keine Fenster. Roy musste sich
anstrengen, um überhaupt etwas sehen zu können. An der hinteren Wand
hing ein großer Spiegel, sonst konnte er nichts weiter erkennen, keine Stühle,
keine Tische, gar nichts. Der Raum war völlig leer. Seltsam. Das konnte
doch unmöglich ein Klassenzimmer sein, oder? Was sollte dies für eine
Aufnahmeprüfung sein? Doch bevor er weiter denken konnte bewegten sie
sich schon wieder und im Nu war das Zimmer wieder an seinem alten Platz,
dort wo die Reise durch die Schule Raperpotz begann.
"So, jetzt kennt ihr die Schule Raperpotz. Ich hoffe sie wird euch
gefallen, vorausgesetzt ihr besteht die Aufnahmeprüfung übermorgen."
Racket fing schon wieder an zu schnauben. Er konnte das Wort Aufnahmeprüfung
schon nicht mehr hören.
"Habt ihr noch irgendwelche Fragen?" Sie schaute in die Runde.
Roy hatte heute so viel gesehen, dass ihm ganz schwindlig zumute war, und
er nicht recht wusste was er eigentlich fragen sollte, obwohl er natürlich
tausend Fragen hatte.
Doch noch bevor er seine Gedanken ordnen konnte, sprang Marie neben ihm
auf und polterte los. "Warum sind in allen Fenstern so seltsame
Gestalten, die sich mit bewegen, wenn man daran vorbei geht."
Roy horchte auf. Auch Marie hatte diese merkwürdigen Bilder in den
Fenstern bemerkt. Also ging es nicht nur ihm so. Das war auch eine seiner
vielen Fragen.
"Ich habe schon auf diese Frage gewartet, Marie. Nein. Das sind keine
seltsamen Gestalten. Das seid ihr. Habt ihr vergessen, Kinder. Ihr sind im
Land der Träume, und in jedem Traum kommt der wahre Mensch zum Vorschein,
offenbart sich der eigene Charakter und das wahre Wesen eines Menschen.
Denjenigen, den ihr in diesen Fenstern seht, dass seid ihr selbst, ist
euer wahres Ich.
"Das bin ich in diesem Fenster?" fragte Marie erstaunt.
"Aber sie sieht mir doch gar nicht ähnlich."
"Das ist erstaunlich, nicht wahr?" Mrs. Weding lächelte Marie
an. "Sie spiegelt ja auch nicht dein Äußeres, sondern dein Inneres
wider. Verstehst du?"
"Aber die Spiegelbilder der anderen sehen doch alle ganz normal
aus?"
"Ja, das stimmt. Für dich sehen sie normal aus, weil du sie nicht
sehen kannst, Marie. Da jeder seinen eigenen Traum hat, kann auch nur
jeder sein eigenes Spiegelbild sehen und nicht das des anderen."
Marie setzte sich etwas verdutzt wieder hin. "Ich soll das sein? Mein
Inneres? Dieses hässliche Ding?"
"Schau sie dir ganz genau an, Marie. Du wirst überrascht sein, was
du sehen wirst."
Roy hörte fasziniert zu.
"So, liebe Kinder. Morgen werdet ihr den ersten Träumelspruch
lernen. Aber für heute ist es genug. Also los hurtig hinaus."
Mrs. Weding stand auf und wollte das Zimmer verlassen. Und als sie schon
fast aus der Tür war hatte Roy doch noch eine Frage. "Woher kommt
der Regen, Mrs. Weding?"
Roy sah, dass ihr so nettes Gesicht plötzlich sehr ernst wurde und sie
nicht so recht wusste, was sie ihm erwidern sollte. "Roy Raperpotz,
ich hoffe, wir alle hoffen, eines Tages wirst du uns die Antwort darauf
geben können."
Sie drehte sich um und verließ den Raum. Roy, Racket und Romy gingen zurück
in ihr Zimmer, wo sie noch lange über diese seltsame Schule sprachen, über
die vielen Unterrichtsfächer und Klassen, in denen sie das Träumeln
lernen würden, und über dieses kleinen Zimmer, in dem ihre Aufnahmeprüfung
übermorgen stattfinden sollte, wobei Racket wieder schlecht wurde. Doch
Roy war mit seinen Gedanken wieder ganz woanders. Was hatte Mrs. Weding
ihm geantwortet? Er wird wissen woher dieser furchtbare Regen kam? Er,
ausgerechnet er? Roy Raperpotz? Aber woher sollte gerade er das wissen? Spät
löschten sie das Licht und legten sich schlafen und Roy zog seine Decke
tief über seinen Kopf.
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