Bist du einsam heute Nacht?


”Bist du einsam heute Nacht?”, fragte er sie und becherte sein abgestandenes Panache hinunter.
”Wieso? Sehe ich so aus? Tut mir Leid, dass wir auseinander gegangen sind!”, kratzte ihre Kehle, sichtlich vom Alkohol gezeichnet, ihm entgegen.
“Lass deine Erinnerung doch zurückschweifen an den Ort, wo wir uns kennen lernten und an den strahlenden Sommertag, als ich dich küsste und dich mein Sweetheart nannte,” sagte er und sah sie an.
”Das hättest du wohl gerne, was? Ist dein Herz mit Schmerz gefüllt?”, brüllte sie, etwas aus der Rolle gefallen und leicht nach vorne kippend, „soll ich wieder zurückkommen? Starrst du schon auf deine Türschwelle und stellst dir mich dort vor? Kannst du lange auf die Tür schielen. Mich wirst du nur noch auf der Klingel mit den Buchstaben, zum Mitschreiben 'Blondie ist weg!'“, bestaunen können. „Ha, ha, ha!”
”Ich frage mich, ob du einsam bist heut Nacht? Du weißt, jemand sagte einmal 'die Welt ist eine Bühne. Und jeder hat eine Rolle zu spielen.' Deine Rolle ist es, zu mir zurückzukommen. Das Schicksal ließ mich verliebt spielen, mit dir -als mein Sweetheart. Der erste Akt war, als wir uns kennen lernten; ich liebte dich auf den ersten Blick. Du hast das Drehbuch so geschickt gelesen und hast nie ein Stichwort verpasst. Dann kam der zweite Akt, du schienst dich zu verändern, hast dich seltsam verhalten. Und warum? Ich habe es nie erfahren!” sagte er etwas melancholisch und schnippte mit dem Finger. ”Gib mir einen Wodka Tonic, Tom.”
„Und was ist mit deinen Lügen, he? Wie oft hast du mich belogen, Charlie? Wie oft saß ich alleine zu Hause. Und wenn du dann einmal da warst, hast du dir mit billigem Fusel den Kopf zugesoffen. Ja, ja, bist ein Avantgarde-Schriftsteller. Und als Schriftsteller darf man sich die Birne zuschütten und auf seine Frau einprügeln. Gehört zu einem Schriftsteller-Leben dazu. Haste doch gesagt. Musst ja was zu schreiben haben. Da ist so `ne verprügelte Frau was Tolles. Kommt gut rüber in deinen Trash’s!” sagte sie und sah ihn, von den Schuhen angefangen, nach oben hin an.
”Du hast gelogen, als du gesagt hast, du liebst mich. Und ich hatte keinen Grund, dir zu misstrauen. Aber ich würde mir eher weiterhin deine Lügen anhören, als ohne dich zu leben. Nun ist die Bühne leer. Stehe ganz dort, von Leere umgeben und wenn du nicht zurückkommst, betrete ich jetzt die Bühne. Dann können sie den Vorhang herunter lassen!” sagte er, nahm sein Glas und ging Richtung Bühne.
”Bravo, bravo, das war eine gelungene Charlie-Reiter-Vorstellung. Bravo! So kenn ich meinen Charlie. Hoch dramatisch und weinerlich, der Charlie. Wie wir ihn alle kennen. Und du,Tom, bist sein Grabmüller. Wirst ihn dann wohl auch begraben. Mit dem ganzen Gift, den du ihm Abend für Abend ausschenkst, bist du doch ohnehin eine Art Fährmann!”schrie sie Tom an und verlor dabei ihr Gleichgewicht und fiel um. Dann zog sie sich am Hocker hoch und schaute zur Bühne, wo sich Charlie auf einen der dort stehenden Stühle setzte und zu singen begann: ”Sag mir Liebste, bist du einsam heut Nacht? Schweift deine Erinnerung noch zurück an einen strahlenden Sommertag, als ich dich küsste und dich mein Sweetheart nannte?”
Sie schaute ihn an. Trat für einen kurzen Augenblick in die verlorene Zeit ein, und ein leiser warmer Schauer durchfuhr ihren Körper. Dann fiel ein Schuss.
Wie gelähmt stand sie da, schaute zur Bühne und dachte an seine letzten Worte:
”Nun ist die Bühne leer, stehe ganz dort von Leere umgeben. Und wenn du nicht zu mir zurückkommen willst, dann können sie den Vorhang herunter lassen.“
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