Die Raben (Auszug aus dem 2. Buch)

 

Schuhman

„Zwei Stockwerke über mir beginnt er sich sein Nest zu bauen wie ein Marderweibchen. Eilige Schritte höre ich als müsste er verlorene Zeit wiedergutmachen. Immer nur seine Schritte.

Er muss erst noch jemand finden der bereit ist seine Zeit und Gedanken mit ihm zu teilen. So einfach geht dass nicht mein Freund. Niemand überlässt sich irgend jemand. Gut Ding will Weile haben. Zuerst musst du ein Paar Augen finden ,die dich überhaupt sehen können durch all den Nebel. Nicht zu forsch. Nicht zu Draufgängerisch. Ettikette, selbst am schlimmsten Ort. Ein Balzen, ein Zieren, ein leichtes Zerren am anderen Geschlecht. Da wollen die ersten Sätze gut bedacht sein. Vielleicht bis zum Tod.

Fieber überfiel das Haus in den Tagen seines Einzugs und schien alle anderen Bewohner ans Bett zu fesseln oder in ihre Behausung zu verbannen.

Der Flur gehörte ihm, und mit prahlerischem Gekeuche schleppte und schleppte er eine Woche lang allerlei Dinge wie ein Ägyptischer Pyramidensklave die Treppen hoch. Dann an einem Donnerstag Morgen war es still. Der erste Akt war vorüber und der Vorhang fiel.
Ab jetzt wieder Mensch und genötigt mit sich selbst zu spielen. Alles war verstaut und festgezurrt. Verpackt und aufgestellt. Eingehängt und eingerastet. Verschoben und benannt. Gebohrt und wieder abgelöst. Entsonnen und Verworfen.

Ich atme auf als hätte ich etwas Schweres hinter mich gebracht.
Beide Fenster meines Wohnzimmers zeigen Richtung Fluss. Die große weiße Katze von der fetten Frau Wertheim sitzt mir gegenüber auf dem schmalen Vorkriegs-Fenstersims und sieht mich vorwurfsvoll an, als würde meine Gegenwart ihr Katzendasein nur noch verschlimmern.
Wie Revolverhelden fixieren wir uns, und einer von uns muss weichen. Ich kapitulierte und schloss das alte Fenster, an dem Jahr für Jahr mehr die Farbe abblätterte, wie in meinem Gesicht.

All der Riesenhaufen Zeit: unzählige Currywürste gefressen, unzählige Gesichter, Tausende von Worte, wie grüne und rote Gummibärchen, verteilt an den verschiedensten Stellen meiner Umgebung.

Meine Landflucht. Jahrhunderte her. Als Bub. Als Nichtswisser und Nichtskönner. Als Nichtmensch. Als elender dreckiger Wurm hier angekommen. Die großen Schiffe.
Das Brüllen ihrer Signalhörner, wenn Sie mutig das sichere Hafenbecken verließen. Jedesmal eine Geburt der Freiheit. Der Gestank des Hafenbeckens. Der Gestank. Hundertmal stärker als mein eigener.

„Wenn so die Freiheit riecht, dann kann ich nicht so schlecht sein“, dachte ich mir damals mit einem Funken Zuversicht. Ich schnitzte mir ein paar Krücken und versucht zu gehen wie die anderen am Hafenbecken. Aufrecht, langsam, besonnen, vor Kraft und Geilheit strotzend. Im richtigen Moment auch mal gebückt, Mitleid heischend, Ein Füßchen bewusst nachziehend, um ins Gespräch zu kommen mit der Welt, die Ihre Verlierer dann und wann mit einem Gläschen Liebe auf Kosten des Hauses belohnt.

Jahr um Jahr nachahmend bis ich nicht mehr stank sondern gern gerochen war. Bis ich nichts mehr roch und ins Wasser ging.
Helfende Hände zogen mich ans Land, fast empört darüber, dass ich ohne irgendeine Tat, ohne Spuren hinterlassen zu haben, mich aus dem Staube machen wollte.

Ein Verräter am System, am Menschen. Kein Durchhalter. Keiner, der was ertragen kann. Ein Mogler und Bescheißer. Keiner, der im Regen stehen kann. Der das Feuer, das durch die Strassen weht, nicht hilft zu löschen mit seiner Nässe. Ein Drängler Richtung Exitus. Der die endlos lange Schlange umgehen will durch einen Wassertrick.

 

Der Patient


Ich saß wieder in meinem Stuhl und begann die Bäume draußen zu zählen im Park vor meinem Fenster. Mein Frottebademantel würde mich warmhalten und mit schmeichelnder Mutterhand meine kalte Haut beruhigen.

Einsam geht es zu. Draußen wie drinnen. Ich kann sie verstehen. Alles schnell erledigt und ab nach Hause zu Frau und Kind und warmer Suppe.

Ein, zwei, drei Tannen dann vier alte Birken. Macht sieben. Nein, die Hecke zählt nicht. Groß müssen sie sein und Äste haben. Ich zähle sieben Bäume vor der hohen Mauer, die die Klinik umgibt wie ein
Streitwall - gebaut aus Deutschem Stein.

Sie schwärmen aus wie Bienen aus dem Nest. Die Pfleger und Ärzte am Pförtnertor. Zurück bleibt nur eine Notration Vernünftiger. um uns durch die Nacht zu bringen, gegen Lohn.

Nein es fühlt sich nicht wie Bewachung an. Verstärkung trifft es besser.

Ich kenne ihre Gedanken wie Stallgeruch. Dass ich aus gutem Grund hier bin. Dass ich einfach zu auffällig war. Zu offensichtlich.
Verdunklungsverbot nicht eingehalten. Nach der Sperrstunde draußen.
Nicht den Leuchtturm gesehen, der alle sicher in den Hafen lenkt.
Ich öffne mein Fenster und erschrecke über die salzige Luft soweit vom Meer entfernt.
Wie ein Herumtreiber belästigt sie die Baumpassanten unten in der tot gepflegten Parkanlage und macht sich lustig über ihre Bewegungsunfähigkeit. Mein Volk hat mich weggeschickt zu den Weiskitteln.
Durch welches Examen bin ich gerauscht, dass man mich hinter Mauern verbergen muss vor der Welt? Dass nur noch geschultes Personal mit mir zu einem Wortwechsel genehmigt ist.
Ansonsten sind wir Verbannten uns selbst überlassen. Immun gegen die Seuche des anderen.

Ich schaue zu meinem Jesus hoch, der über mein Bett gehängt wurde, ohne ihn zu fragen. Du und ich hier im Baumland, wo es zu kalt ist für hüpfende Affen. Du schaust über deine blutenden Füße hinweg auf mein Bett. Du kannst von dort aus nicht mal aus dem Fenster sehen. Die fleißigen Honigbienen. Den russischen Gärtner. Schulmedizin verbreitet durch Karpfenmäuler, macht blubbernd Kringel im Teich.
Ein Exilant bin ich, so nebensächlich wie der Kartoffelpreis.

Ich liege im Bett und du Jesus Christus, letzte Tankstelle vor dem langen Weg ins Nichts, starrst mir auf die Haare. Besseres hast du verdient als meine ungekämmte Gedankenschublade anzuschauen.

Seit Jahren versuche ich mich zu sammeln, aber alles ist Wüstensand. Bedeutungslos und unbrauchbar, nicht formbar und keine Dichtheit ergebend. Mein Rücken verbrannt und abgeheilt so gut es Mutter Natur gefiel. Meine Arme ebenfalls. Meine Füße auch. Keine Haare trauen sich mehr zu wachsen.

Als hätte ich in einem Vulkan gelebt. Der Sohn von Drachen. Das Glutkind.

 

Kontakt zum Autor. Andy Brenner:  brenner.boll@freenet.de

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