Paradoxer Rückblick

Leseproben aus meinem Buch des Jahres 2011

 

 

Die Waschstraße

Die Zahl der Pensionisten steigt mit jedem Jahr, wie jene der Arbeitslosen auch – aber Kinder kommen viel zu wenige nach. Das bringt nicht nur die Alterspyramiden ins Wanken, nein, das haut auch das Pensionssystem europaweit über den Haufen.

Regierungen, Sozialminister, Gewerkschafter, Soziologen, Finanzmathematiker, Statistiker, Mediziner usw. sind seit Jahren am Überlegen und am Wort. Es kommen keine verwertbaren Vorschläge heraus, auch keine Ideen. Leise verklingt da jene Stimme, die zu mehr Auszubildenden in der Altenbetreuung und in den Pflegeberufen rät.
Sie wird durch die Zusammenlegung von Spitälern und Intensivbetteneinsparung glatt übertönt.

Warum auch nicht? Im Gegenteil. Man arbeitet schon seit geraumer Zeit an Konzepten, wie man die Alten in den Bettenstationen wird ohne Gebrauch von Angestellten maschinell säubern können. Also praktische eine Waschanlage für jene, die sich nur mehr eingeschränkt oder gar nicht mehr bewegen können. Man tüftelt also an einer Waschstraße für die überaltrige Generation!

Das ist kein Witz, meine Lieben. Ich kenne Gegend und Firma, die mit Hochdruck an den Konzepten arbeitet und bereits daran ist, die erwarteten Erträge und Gewinne zu maximieren.

Mir wird also in ein paar Jahren keine Hilfskrankenschwester aus Ostasien den verdreckten Hintern wischen, nein, mich werden sie schon täglich ein- bis zweimal durch die schaumgetränkten Silikonbürsten schicken.

Herrgott, lass mich noch vorher rasch abkratzen!

 

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Mikrofontest

Im riesigen 6-Sterne-Hotel werden die letzten Vorbereitungen für den diesjährigen internationalen Banker-Kongress getroffen. Die Bonzen und Schieber aller großen Nationen sind wieder einmal zusammengekommen. Langsam füllt sich der 2000sitzige Saal.

Ein Delegierter der größten hiesigen Landesbank tritt, während es im Saal noch unverbindlich summt und hier und da hell aufgelacht wird, ans Mikro und testet dieses mit den Worten:
„Wir werden demnächst 100 Milliarden vom Markt nehmen“.
Die Anlage scheint gut in Schuss zu sein, die Lautsprecher funktionieren ohne Rückkopplung. So soll es sein!

Nach einer knappen Viertelstunde, das Auditorium ist bis auf den letzten Sitzplatz gefüllt, tritt der Präsident ans Rednerpult, begrüßt die Anwesenden und umreißt kurz die Schwerpunkte, der kommenden drei Tage. Dann kommt der Abgesandte Brasiliens an die Reihe, nach ihm spricht der Vertreter Italiens usw.

Und als die Herrn ermüdet zum Lunch aufbrechen, sind die Börsen weltweit um knapp 10 Prozent gefallen. Ein Crash von nie dagewesener Intensität zeichnet sich ab. Man rätselt lang und breit, bis man gegen Ende des Symposions den einheimischen Vertreter als Ursache ausmacht: Für ihn wäre es wohl sinnvoller gewesen beim alt hergebrachten Mikrotest, der da lautet „Sprechprobe, eins, zwei, drei“, zu bleiben, als etwas von 100 Milliarden zu faseln!

Aber nachher ist man ja immer klüger.

 

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Ein Freund

„Nein, du kannst ihn nicht sprechen, er schläft gerade. Eigentlich wirst du ihn überhaupt nicht mehr sprechen können“, flüstert Karin, Peters Frau, ins Telefon.

Peter ist mein Freund, wenige Wochen älter als ich. Wir kennen einander seit knapp 50 Jahren – mit Unterbrechungen, die ihren Ursprung in Familiengründung und beruflicher Laufbahn hatten. Seit knapp 2 Jahren ist nun auch Peter in Pension. Hat sein Leben lang in großen technischen Konzernen mit profundem Wissen und Können geglänzt und fantastisch verdient. Die letzten 15 Jahre in der Erdölförderung. Nein, nicht im Golf von Mexiko!

Wenngleich auch sein Fachgebiet die Tiefbohrungen waren – aber in den steinigen Untergrund Kanadas und Sibiriens. Dort verbrachte er viele Monate im Jahr – oft im Permafrost – wo das Bohren und Leben auch nicht gerade leicht fallen. Am Arsch der Welt, sozusagen.

Er hat mir oft davon erzählt und mir auf seinem Laptop jene Programme gezeigt, mit denen man die Verzweigungen der Bohrkanäle in Tausenden Metern Tiefe grafisch darstellen konnte. Mit all den Kräften, die auf das Gestänge, die Gelenke, die Motoren und Kupplungen und weiß der Teufel, was sonst noch, einwirken. Und diese Programme hat er selbst geschrieben und laufend verbessert und den geänderten geologischen Verhältnissen vor Ort angepasst. Für mich eine unvorstellbare Leistung! Und ich bin auch kein mathematischer Vollidiot.

Und mit seinem Ruhestand wurden auch unsere Kontakte wieder zahlreicher. Peter teilte so einige Vorlieben mit mir: Fotografie, PC, Fotobearbeitung, Jazzmusik und Lesen. Bei ihm kam auch noch ein gerüttelt Maß an sportlicher Aktivität hinzu, womit er aber bei mir nicht punkten konnte. Ich halte es da lieber mit dem alten Winston Churchill: „No sports!“

Von seinen Segelturns und Tauchgängen rund um den Globus brachte er wunderbare Unterwasseraufnahmen mit, die nur durch Zufall nicht den Weg in „National Geographics“ fanden.

Er war ein knappes Jahr in Rente, als das mit seinen Bauchschmerzen anfing. Eine schier endlose Befundreihe wurde erstellt. Ohne nennenswertes Ergebnis. Er verlor an Gewicht. Dann stellte man eine kleine Unregelmäßigkeit im Bereich Leber und Galle fest.

Er suchte die besten Kliniken auf, unterzog sich sehr mühsamen Untersuchungen, legte sich ins größte Klinikum des Landes. Irgendetwas drückte auf die Gallengänge, er bekam Gelbsucht. Dann stand die Ursache plötzlich fest: Tumor in der Bauchspeicheldrüse.

Die in solchen Fällen übliche Tortour begann und endete mit einer Chemo, auf die mein Freund leider so gar nicht ansprach. Er konnte kaum mehr etwas essen, und kotze das Wenige gleich wieder aus. Er hatte über 30 kg abgenommen. Das war vor drei Wochen und damals hatte ich ihn zum letzten Mal selbst am Telefon. Er klang verdammt nach Abschied. Wie ich heute weiß, war es ein Abschied für immer.

Leb wohl, Peter – sei tapfer, Karin!
 

 

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