KLEINE HÄNDE
Ein Schuljahr geht zu Ende zu,
und wie immer steht für einen Jahrgang im Gymnasium als Abschluss die so
genannte mündliche Reifeprüfung, auch Abitur genannt, auf dem Programm.
Ich bin Mitglied der Prüfungskommission, in der sich mehrere
Fachkollegen, der Direktor der Schule und der vom Stadtschulrat
beauftragte Inspektor befinden. Die Prüfungen haben eben begonnen, die
Kandidaten schwanken zwischen Nervosität und Sebstsicherheit. Die
Prüfung läuft stets nach einem perfekt eingefahrenen Ritual ab. So auch
heute.
Ich sitze etwas abseits, meine Kandidaten kommen erst später an die
Reihe, höre mit halbem Ohr einem Prüfling zu, als sich die Tür des
Prüfungsraumes lautlos öffnet und die Sekretärin erscheint. Nur sie darf
den Raum betreten, vor dem Raum hält der Schulwart Wache, und sollte ein
Kandidat auf die Toilette gehen müssen, so wird er von einem Lehrer
begleitet um etwaigen Absichten des Schwindelns entgegen zu treten.
Ich wende mich zur Sekretärin, und sie gibt mir mit Handzeichen zu
verstehen, zu ihr zu kommen. Gesprochen darf im Prüfungszimmer nicht
werden, das könnte die Prüflinge stören. Ich nehme mit dem Vorsitzenden
Blickkontakt auf deute auf die Sekretärin und dann auf mich, und mache
ebenfalls Handzeichen, die ein Verlassen des Raumes signalisieren.
Er ist mit meinem Vorhaben einverstanden und nickt mir zu.
„Was gibt es Wichtiges“, frage ich, froh den Prüfungsraum verlassen zu
können, aber sie flüstert nur und ihre Stimme zittert, „du wirst am
Telefon verlangt“, meine Frage von wem, beantwortet sie nicht und zieht
mich den Gang entlang und die Stufen hinunter in den ersten Stock, wo
sich die Direktion und das Sekretariat befinden. Dann beginnt sie
plötzlich zu weinen und hält mir einen Zettel mit einer Telefonnummer
hin. Ich frage nochmals, was denn geschehen sei, aber sie deutet nur auf
den Zettel und sagt, „Bitte, ruf schnell an, das ist die Nummer der
Feuerwehr.“
Sofort beginne ich an ein Unglück zu denken. Habe ich vergessen, die
Kochplatte auszuschalten, steht meine Wohnung in Vollbrand, wurde
eingebrochen und hat mein Hund den Täter gebissen? Sonst fällt mir im
Augenblick kein weiteres Unheil ein, und ich beginne die Nummer zu
wählen.
Es meldet sich eine Männerstimme: „Berufsfeuerwehr Wien, sie sprechen
mit Herrn Kowatschiz, was kann ich für sie tun?“ Ich nenne meinen Namen
und sofort gibt er mir Bescheid. „Gut, dass sie gleich anrufen, es geht
um ihren Herrn Vater. Wir wurden verständigt, dass er am Nussbaum im
Garten sitzt und nicht mehr absteigen kann.“
Sofort fällt mir sein Hobby, der Nussschnaps, ein. Er klettert doch
jedes Jahr um die Zeit auf diesen Baum, um Nüsse für seinen Schnaps zu
ernten. Diese werden dann in Weingeist in Fünflitergläsern angesetzt,
reifen ein paar Wochen in der Sonne, wobei sie mehrfach gedreht und
gewendet werden und können dann in kleine Fläschchen umgefüllt werden,
um im Keller auf Regalen gelagert zu werden. Ich selbst habe zu Hause
mindestens zwanzig dieser braunen Flaschen, aber ich kann das Zeug nicht
trinken. Der Alkoholgehalt bewegt sich in Prozentsätzen, der nach dem
Genuss zu schwersten Verbrennungen der Speiseröhre und der
Magenschleimhaut führen muss. Ich habe meinen alten Herrn schon oft auf
diese ungesunde Tatsache hingewiesen, bekam aber immer nur zur Antwort,
es sei wirklich schade, dass ich nicht erkenne, was Qualität ausmache
und außerdem sei das nach einer Rezeptur gemacht, die nach
Familientradition in Ungarn entstanden sei, wahrscheinlich bereits zu
Zeiten des Herrschers Attila oder vielleicht war es auch Arpad. Genau
ließe sich das heute nicht mehr sagen.
Meine Gedanken werden jedoch von Herrn Kowatschiz jäh unterbrochen: „Wir
konnten ihren Vater mit Hilfe der Drehleiter und der Unterstützung von
zwei jungen Feuerwehrschülern zwar bergen, dennoch gab es bei dem
Einsatz ein Problem, denn ihr Herr Vater war nicht mehr bei Bewusstsein
und wir mussten die Rettung verständigen. Nachdem die Rettung da war,
wurde ihr Vater in das nahe gelegene Spital in Lainz transportiert und
sie sollen dort anrufen. Unsere Aufgabe war mit der Bergung beendet, und
die nächsten Einsätze warten schon auf uns. Ich habe nur noch ihren
Anruf abgewartet.“
„Wie sind sie denn zu meiner Telefonnummer gekommen?“ frage ich.
„Nun, ihre Mutter steht neben mir, das war daher sehr einfach.“
Ich bin verblüfft und glaube mich verhört zu haben, denn meine Eltern
sind seit gut zwanzig Jahren geschieden. Ich hatte lange Zeit mit meinem
Vater keinen Kontakt, wir trafen einander zuletzt bei Gericht im Zuge
einer Unterhaltsklage. Ich hatte ihn geklagt, nachdem er mir keinen
Unterhalt bezahlte, sein Anwalt die Auffassung vertrat, dass mein
Studium ein Hobby meinerseits sei, mein Vater habe mich finanziell bis
zur Reifeprüfung unterstützt und danach könne ich auf eigenen Füßen
stehen. Der Richter schloss sich dieser Argumentation an, ich verlor den
Prozess, musste für Gerichtskosten, Anwaltskosten und andere Bürokosten
aufkommen und sah meinen Vater erst viele Jahre später wieder, dann
allerdings auf seinem Sterbebett.
„Und was hat der Arzt gesagt?“
„Sie sollen im Spital anrufen, es schaut nicht gut aus.“
„Geben sie mir meine Mutter, bitte.“
Ich höre nur ein Schluchzen und dann eine zitternde Stimme: „Komm
schnell, er wird sterben.“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll und lege auf. Die Sekretärin schaut
mich aus verweinten Augen an, ich habe schon vorher mit deiner Mutter
gesprochen, aber ich konnte es dir nicht sagen.
„Ich kann nicht weg von hier, ich habe oben meine Kandidaten, ich muss
warten, bis alle fertig sind, vielleicht kann ich Nachmittag früher
wegkommen.“
„Aber was machst du, wenn er früher stirbt“, meint sie. Ich weiß darauf
keine Antwort.
Ich gehe wieder hinauf in den Prüfungsraum, Direktor und Vorsitzender
schauen mich fragend an. Ich flüstere nur, dass ich es später erkläre.
Meine Kandidaten, ein Mädchen und ein Bursche, beantworten souverän die
gestellten Fragen, ich unterbreche sie dabei nicht und auch von Seiten
des Vorsitzes kommt keine Zwischenfrage.
Dann ist die Prüfung vorbei, man geht in die Mittagspause und ich kann
mich verabschieden, nachdem ich kurz meine Gründe genannt habe.
„Viel Glück und alles Gute für ihren Vater“, den sie gar nicht kennen,
wünschen sie mir und auch der Vorsitzende wünscht mir, gerade noch wie
eben den Schülern, viel Erfolg, „ich kenne das Spital in Lainz, sie
haben gute Leute dort“. Ich erinnere mich gehört zu haben, dass Lainz
auch die Sterbeklinik Wiens genannt wurde. Doch nun, nichts wie weg. Vom
ersten Bezirk nach Lainz geht es mit den öffentlichen Verkehrsmitteln
nicht so rasch und so dauerte es eine gute Stunde.
Bei der Rezeption erkundige ich mich nach der Station, in die mein Vater
gebracht wurde, irre eine Zeitlang auf den Wegen zwischen den Stationen,
ehe ich fündig werde. Eine Krankenschwester hält mich auf, führt mich
dann aber an etlichen Krankenzimmern vorbei zur Oberschwester.
Ihr Verhalten bedarf keiner weiteren Erklärung. Ich sage mir, dass ich
zu spät gekommen sein muss. Sehr gefühlvoll erklärt sie mir, dass sein
Zustand sehr kritisch sei, die Ärzte konstatierten ein Aneurysma mit
nachfolgender Ruptur der Hauptschlagader, eine Operation sei unmöglich,
er werde sterben, er sei schon nicht mehr bei Bewusstsein.
Ob ich ihn noch sehen könne - und sie nimmt mich an der Hand, führt mich
über den Gang, öffnet verstohlen eine Tür, und wir befinden uns in der
Wäschekammer der Abteilung. In der Mitte des Raumes das Krankenbett
meines Vaters, und mein erster Eindruck „das ist nicht mein Vater“. Die
Schwester fügt noch hinzu, man könne von ärztlicher Seite nichts mehr
für ihn tun, er leide jedoch keine Schmerzen, es sei vielmehr ein
langsames Hinübergleiten und ich könne hier bleiben bis zu seinem Tode.
Wenn ich etwas wolle, möge ich nur ins Schwesternzimmer kommen, sie
werde jedoch ohnehin ständig vorbei sehen. Damit stellt sie mir einen
Sessel ans Bett und meint: „Nehmen sie ruhig seine Hand, das wird ihn
und sie beruhigen.“ Dann geht sie leise hinaus.
„Hier bin ich, mein Vater“ , ist alles, was mir im Augenblick einfällt.
Ich erkenne nun doch seine Gesichtszüge, die ausgeprägten Falten auf der
Stirn und die eingefallenen Wangen. Seine Zahnprothesen hat man ihm
bereits entfernt, sodass sein Mund eine Öffnung bildet, die an
schnarchende Männer erinnert. Die Ohren auffallend weiß, er dürfte sich
seit drei Tagen nicht mehr rasiert haben und auch aus der Nase rage ein
paar weiße Haare. Er, der niemals krank sein wollte, der dem Alter davon
zu laufen versuchte, liegt nun hier ausgestreckt vor mir, zugedeckt mit
einer Bettdecke auf der „Stadt Wien Lainz“ am unteren Ende eingewebt
steht. Warum das? Hat man Angst um die Decke? Und gleichzeitig mit dem
Erkennen der Schrift, frage ich mich, wie viele Sterbende bereits unter
dieser Decke lagen. Der Geruch nach scharfen Waschmitteln erfüllt das
Zimmerchen, und nach kurzer Zeit rinnen meine Augen. Ich suche
vergeblich ein Fenster. Es ist ein toter Raum, und wer vom Personal auf
die Idee kam, hier Sterbende unter zubringen, hatte sicher vorher hier
nie die Luft geatmet. Lange konnte hier niemand überleben.
Vater wollte immer ein Held sein. Jetzt konnte ich, der ich immer Angst
vor seinen Erziehungsmaßnahmen hatte, nichts Heldenhaftes in seinem
Gesicht erkennen und fühlte mich plötzlich ihm überlegen. Jetzt konnte
er mir keine Angst mehr machen, er würde nie mehr sagen können „Was habe
ich da nur gezeugt? Der kann rein gar nichts! Dabei habe ich ihm doch so
viele Talente mitgegeben und er fängt damit nichts an.“
Ja, und jetzt war er 80 Jahre alt geworden. Ich war 40 und hörte in
Gesellschaft sehr oft die Bemerkung: „Er ist die Hälfte von mir und mehr
als das wird er wohl nie werden.“
War das sein ungarisches Blut, auf das er immer pochte, dass ihm ein
feuriges Temperament in die Adern pumpte? Wusste er jemals, wie er mich
damit verletzte? Und wieso lachten Umstehende stets über diese
Bemerkung?
Es ist ein Sonntag im Frühjahr des Jahres 1950 und ich begleite meinen
Vater auf den WAC-Platz, eine Sportstätte im Prater. Mein Vater ist
Kapitän einer Handballmannschaft und heute findet ein wichtiges Spiel
statt; es geht um die Tabellenführung. Kurz vor dem Platz treffen schon
mehrere Spieler zusammen und auch bei ihnen sind einzelne Kinder
mitgekommen. Wir Buben kennen uns auch schon lange, sind wir doch jedes
Wochenende mit dabei. Die Männer begeben sich zu den Garderoben, ziehen
ihre Dressen an und wir warten einstweilen auf dem Sportplatz. Dann
kommen sie und wärmen sich vor dem Spiel auf, indem sie laufen, hüpfen ,
verschiedene Verrenkungen und Dehnungen machen und natürlich den Tormann
mit Schüssen aus allen Richtungen eindecken. Viele Schüsse verfehlen
jedoch das Tor oder werden vom Tormann abgewehrt, und dann beginnt
unsere Aufgabe. Wir laufen den weit hinter dem Tor liegenden Bällen nach
und bringen sie den Spielern zurück. Sofort wird wieder der Tormann
geprüft, und wir sind wieder am Laufen.
Dann beginnt das Spiel und wir Kinder teilen uns nach Zughörigkeit
unserer Väter hinter dem entsprechenden Tor der Mannschaft auf. Hier
unterstützen wir den Tormann, er braucht sich niemals auf die Suche nach
verschossenen Bällen zu machen, das erledigen wir. In der Pause dürfen
wir dann auch auf das Spielfeld und mit den Bällen unsere
Geschicklichkeit testen. Es gibt unter uns verschiedene Lebensalter und
manch einer kann bereits den Handball mit einer Hand halten, hochziehen
und sehr gezielt schießen. Meine Hände sind noch zu klein, ich kann den
Ball nur mit beiden Händen halten und versuche ich ihn zu werfen,
gleitet er mir regelmäßig aus den Händen, so kommt nie ein Schuss
zustande, es ist nur ein Werfen. Nach Spielende gehen die Männer beider
Mannschaften noch in die Kantine auf ein, oder zwei Bier und unsere
Dienste werden mit Limonade abgegolten. Die Mannschaft meines Vaters hat
knapp, aber wie die Spieler sagen, verdient gewonnen. Daher ist er
bester Laune.
„Wie hat es dir gefallen, hast du was gelernt dabei“? Ich nicke nur,
denn was ich dabei lernen sollte, war mir nicht klar.
„Wenn es dir gefällt, in der Knabenmannschaft suchen sie immer Spieler
mit Talent, das du ja zum Glück von mir mitbekommen wirst. Ich werde
dich dem Trainer vorstellen“. Der Trainer kam gerade vorbei, er rief ihn
zu sich und sagte: “Schau ihn dir einmal an, vielleicht wird einmal was
aus ihm“.
Der Trainer kam zu mir und sagte : “Bist du Rechtshänder, so leg mir die
rechte Hand hierher“, und wies auf seine rechte, offene Handfläche und
meinte danach zu meinem Vater: “Elemer, das braucht Zeit mit ihm, er hat
noch zu kleine Hände.“
„Hab ich mir auch schon gedacht“, gab mein Vater zur Antwort, „aber wir
brauchen ohnehin immer Ballbuben, das kann er auch mit beiden Händen
machen.
Als mir dieses Bild durch den Kopf geht, lege ich meine Hand in die Hand
meines Vaters, und immer noch ist sie mindestens um ein Drittel kleiner
als seine und ich kann auch heute noch immer nicht einen Handball mit
einer Hand halten, so fest ich auch meine Finger spreize.
Eine Krankenschwester betritt den kleinen Raum, sie hüstelt verlegen,
nur um sich bemerkbar zu machen, tritt an das Bett heran, ich ziehe
meine Hand aus der meines Vaters, denn sie will seinen Pulsschlag
fühlen, ich stehe auf und denke, sie will allein ihre Arbeit verrichten,
aber sie schüttelt nur verneinend den Kopf. Aus dem Regal mit den
Leintücher, korrekter sollte es Leichentücher heißen, zieht sie drei
oder vier Tücher heraus und gleichzeitig damit wird eine neue Duftwolke
dieser in den Großreinigungsanstalten verwendeten Reinigungsmittel
freigesetzt. Das ist kein Duft, das riecht scharf und brennt in den
Augen. Aber ich denke, er kann es ohnehin nicht mehr riechen. Seit ich
bei ihm bin, ist sein Unterkiefer langsam immer weiter nach unten
abgeglitten, sein Mund öffnet sich mehr und mehr, aber es kommen keine
rasselnden Töne heraus. Er, der früher so laut schnarchen konnte, dass
man ihn durch drei geschlossene Räume gehört hatte, liegt nun ganz
stumm, nicht einmal sein Brustkorb hebt sich und zeigt an, dass noch
Leben in ihm ist.
Ich sehe auf meine Uhr, es ist fünf Uhr nachmittags, ich bin also erst
seit zwei Stunden hier, habe jedoch den Eindruck schon viel mehr Zeit
hier verbracht zu haben. Ich setze mich wieder auf den Sessel und sage,
nur die Lippen bewegend, zu ihm, „Hast du Schmerzen? Leidest du? Sag
doch irgend etwas, sag zumindest, dass es dir leid tut.“
Plötzlich hebt sich die Decke und er atmet röchelnd, ich sehe er will
sprechen. Weiß er, wer neben ihm sitzt, hat er meine Gedanken gelesen,
will er antworten? Aber schon ist die Bewegung wieder zu Ende, sein Mund
würgt Laute hervor, ich verstehe absolut nichts, es sind keine Worte,
nur Geräusche.
Mein Vater spielte Violine, er übte nie und ich brauchte lange, ehe ich
begriff, dass er keine Noten lesen konnte, aber er verfügte über ein
ausgezeichnetes Gehör, konnte eine Melodie, die er gehört hatte, beinahe
fehlerfrei nachspielen, eine Fähigkeit, die er mir leider nicht vererbt
hatte. Da wir zu Hause auch ein Klavier hatten, sollte ich sein Partner
werden.
Es begann wie üblich: Weihnachtslieder, Klavier mit Violine, dann
Volkslieder, dann kleine Studien großer Meister, einfach gesetzt, ich am
Klavier mit den Noten, ich musste die Melodie vorspielen, danach
begleitete er mich auf der Violine. Und dann gestand er mir, dass er
keine Noten lesen könne, aber als Ungar, habe er das Talent bereits in
die Wiege gelegt bekommen. Hätte man ihn in seiner Jugend nur mehr Zeit
zum Üben gegeben, würde er heute sicherlich in einem Orchester sitzen
und ich dachte bei mir, warum sagt er nicht gleich, sicher die erste
Geige spielen.
Meine Fortschritte im Klavierspielen stellten sich durch das
Übungspensum ein, die Schwierigkeitsstufe der Etüden wurde erhöht und
damit kamen auch die Probleme. Meine Lehrerin sah oft betroffen auf
meine Hände, seufzte dann hörbar und meinte, „Warum nur hast du so kurze
Finger?“
Tatsächlich hatte ich Schwierigkeiten mit den Oktavgriffen und sehr oft
schlichen sich Fehler ein. Aber das Spiel machte mir Freude, ein
Durchbruch war jedoch nicht zu erwarten. Sollte ich vielleicht auf die
Blockflöte umsteigen? War es doch schon Pan gelungen, mit ihrem Ton, die
Welt zu begeistern.
Doch es sollte nicht die Blockflöte werden, sondern ein anderes
Blasinstrument. Wir hatten im Gymnasium einen Musiklehrer der mit aller
Gewalt ein eigenes Orchester gründen wollte. Und da ihm noch ein paar
Bläser fehlten, redete er mir ein solches Instrument ein. Natürlich war
eine Aufnahmeprüfung nötig, die im am Klavier abzulegen hatte. Sollte
ich diese bestehen, dürfte ich Klarinette lernen. Das hatte man mir
versprochen. Die Prüfung kam und ich war furchtbar aufgeregt.
„Was haben sie gewählt, was hören wir von ihnen?“, wurde ich gefragt.
Mit krächzender Stimme flüsterte ich nur, „Mozart“, nahm Platz am
Klavier und begann zu spielen. Ich hatte noch nicht einmal zwanzig Takte
gespielt, da hieß es, „das genügt.“
Durchgefallen, dachte ich bei mir, jedoch unser Musiklehrer gehörte
dieser Prüfungskommission an, kam zu mir, gratulierte mir und sagte:
“Du hast es geschafft, aber mit Klarinette wird es nichts, es gibt schon
zu viele Schüler, aber was wäre es mit Oboe, da gibt es einen freien
Platz, und ihr Ton ist ohnehin viel angenehmer und näselnder.“
Ich hatte keine Ahnung von der Verschiedenheit der Klangfarbe und der
Spieltechnik der beiden Instrumente und sagte sofort zu. Der Weg zur
Hölle war geöffnet.
Ich hatte meinen Eltern nicht gesagt, dass ich mich um eine Aufnahme ins
Konservatorium beworben hatte, denn ich dachte, sollte ich nicht
genommen werden, erspare ich mir ihre Kommentare. Jetzt aber war ich
stolz, dass ich es geschafft hatte, aber an Stelle von Lob, bekam ich zu
hören:
„Hast du dir denn das überhaupt überlegt, man kann doch nicht
gleichzeitig aufs Konservatorium gehen um Berufsmusiker zu werden und
die Schule nur so nebenbei besuchen! Weißt du denn nicht, was gescheiter
im Leben ist. Eine abgeschlossene Schulausbildung mit Matura, oder ein
gescheiterter Musikant?“
Der Lehrer für Oboe war ein sehr gutherziger Mensch. Ich bekam vom
Konservatorium ein Leihinstrument und die erste Aufgabe bestand darin,
das für die Oboe benötigte Doppelrohrblatt zu behandeln, es vorsichtig
zu hobeln, es nicht einreißen zu lassen. Dann der Ansatz des
Instrumentes, das Blatt im Mund, die Lippen über die Zähne eingezogen
und der Versuch einen Ton zu erzeugen. Die so intelligenten Sprüche,
dass aller Anfang schwer sei, bestätigten sich auch hier.
Ich übte besessen und ausdauernd, hatte jedoch nicht mit dem
Unverständnis meiner Familie gerechnet. Nicht einmal wurde ich
aufgefordert doch in einem anderen Zimmer zu üben, man könne ja nicht
Radio hören. Im Vorzimmer wäre ich weit genug entfernt. Wenig später war
es jedoch auch mit dem Vorzimmer zu Ende, es kamen Klagen von Nachbarn
und anderen Hausbewohnern, und auch die Bemerkung für das Konservatorium
müsse man eben üben, half nicht, es blieb mir nur eine Stunde Übungszeit
gestattet. War die Stunde vorüber und ich achtete nicht auf die Zeit,
wurde ich durch Klopfgeräusche an der Wand oder durch Klingeln an der
Wohnungstüre an das Ende der Übungszeit sehr deutlich erinnert.
Beim Spiel auf der Oboe werden von den Fingern viele Spreizgriffe
verlangt, wie beim Klavierspiel fürchtete ich diese Griffe und kam ich
auch hier bald in Schwierigkeiten. Der Lehrer war wirklich sehr nett, er
besah meine Hände, und führte meine schwache Leistung auf mangelndes
Üben zurück.
Nach zwei weiteren Monaten dann das entscheidende Urteil: „Dein
Übungspensum ist nicht ausreichend und außerdem hast du zu kleine Hände.
Besser, du haust den Hut drauf, denn so kommen wir nicht weiter.“
Ich hatte Tränen in den Augen und verabschiedete mich für immer vom
Konservatorium.
Hatte ich gedacht, zu Hause wäre man froh über meinen Abschied vom
Konservatorium, so irrte ich mich abermals. Mein Vater spottete nur und
meinte, jetzt könne ich mich endlich voll auf den Schulabschluss
konzentrieren, denn ewig werde er mich nicht durchfüttern, nur um meine
Hobbys zu unterstützen.
In meinem Zorn hielt ich ihm meine Hände entgegen und schrie ihn an: „Da
schau her, was du mir vererbt hast,andere haben lange Finger und meine
sind für alles zu kurz“.
Er schaute mich an, verzog dann das Gesicht und meinte: „Ich?“ meinst du
wirklich mich, oder hast du schon einmal nachgedacht, wie deine Mutter
mit ihrem ledigen Namen geheißen hat? Klein hat sie geheißen und alles
an ihr stimmt mit dem Namen überein! Schau, wie groß sie ist, knapp über
einen Meter fünfzig, nicht mehr, sie musst du fragen, nicht mich, von
ihr hast du deine Hände geerbt.“
Tatsächlich, und das war für mich schon merkwürdig, hatten meine beiden
Schwestern, ich bin geneigt zu sagen, normal große Hände, schlanke,
gerade lange Finger; nur ich hatte kurze und krumme Finger.
Er drehte sich auf der Stelle um und bevor er den Raum verließ knurrte
er noch:
„Ich hoffe, du schaffst die Schule, denn jetzt ist Schluss mit meiner
Güte!“
Ich schloss die Schule mit der Reifeprüfung ab, und im Herbst des Jahres
ließen sich meine Eltern scheiden.
Es ist das Jahr 1963, das meine bisherige Welt in eine neue Richtung
lenkte. Ich hatte ein Sportstudium begonnen und verbrachte die
Wintermonate als Schilehrer. Das verlangte die Ausbildung und es war
eine wunderschöne Zeit. Jede Woche bekam man eine neue Gruppe von
Touristen, die das Schifahren erlernen wollten, zugeteilt. Ich lernte
viele Menschen kennen und auch viele verschiedene Charaktere.
Und da war Luise.
Luise kam aus Wien, hatte ihren Weihnachtsurlaub gemeinsam mit einer
Freundin hier gebucht und war versessen darauf, Schifahren zu erlernen.
Als Schilehrer lernst du sehr schnell, wie du dich deinen Kunden
gegenüber zu verhalten hast. Nicht das Klischee des
testosterongesteuerten Machos wird verlangt, sondern der zuvorkommende
stets hilfsbereite und immer lobende Typ ist gesucht. Und ein
gewinnendes Lächeln, das, wie ich rasch bemerkte, eher reifere weibliche
Jahrgänge ansprach.
Es gehört zu den Aufgaben eines Schilehrers, das verlangt der Chef des
örtlichen Tourismusverbandes, mit seinen Schülern den sogenannten 5 Uhr
Tee zu besuchen, oder dann am Abend die diversen Veranstaltungen in den
Discokellern. Nachdem ich bereits mit etlichen Damen meines Kurses die
Pflichttänze absolviert hatte, bat ich Luise zum Tanz. Sie lächelte
höflich und meinte, vielleicht später, jetzt habe sie keine Lust. Sie
sah mir dabei in die Augen, aber was waren das für Augen? In mir zuckte
es, ich spürte, dass ich errötete, wollte mich über meine Regung ärgern,
da ergriff sie meine Hand. Welche Wärme war das? Was floss da in mich,
warum zitterte meine Hand? Die Band spielte wie immer viel zu laut, und
ich hörte nur: „Vielleicht später“, und ihre Hand blieb auf meiner
liegen.
Dann wandte sie sich ihrer Bekannten zu, und ich forderte eine weitere
Damen aus der Gruppe zum Tanzen auf.
Es ist kurz vor Mitternacht, als ich mich von meiner Gruppe mit der
verschmitzten Bemerkung, ich müsse ja morgen fit für die Arbeit sein,
verabschiedete. Ich holte meine Jacke aus der Garderobe und stieß mit
Luise zusammen. Sie hatte bereits ihre Daunenjacke an und stotternd
fragte ich sie:
„Hat es dir hier nicht gefallen“
„Doch, doch,“ antwortete sie, „gehst du auch schon?“
Sie hängte sich bei mir ein und wir verließen das Lokal.
„Und jetzt, wohin?“
„Du begleitest mich nach Hause“, bekam ich zur Antwort.
Im Hotel wohnte sie im zweiten Stock in einem Doppelzimmer.
„Magst du etwas trinken?“ Ich schüttelte verneinend den Kopf und starrte
sie an. Sie hatte ihre Daunenjacke abgelegt, suchte sich im Eiskasten
eine Flasche Campari und sagte lachend:
„Keine Angst, du wirst nicht gebissen“.
Sie schenkte sich ein Glas ein, ich stand nur verlegen grinsend im
Zimmer. Sie nahm einen Schluck Campari, trat auf mich zu, ich spürte
ihre Wärme, aber das war keine Wärme, das war wie eine
Betäubungsinjektion, ich war unfähig zu sprechen. Lange danach klopfte
es an der Tür, Luise stand auf, öffnete die Türe einen Spalt und ich
hörte sie flüstern, dann ein kurzes Lachen und sie kam zurück ins Bett.
„Die Arme, sie ist meine beste Freundin, sie geht nochmals zurück in die
Disco, wir können noch einen Abschiedswalzer drehen.“
Die Woche war verloren, ich unterrichtete nur mit halber Konzentration,
hatte Augen nur für Luise und fürchtete den Samstag, den Tag des
Kurswechsels. Was hatten wir nicht alles in diesen vier Tagen erlebt?
Was hatten wir nicht alles besprochen, niemals zuvor hatte ich meinen
Körper so erlebt, wir stellten keine Forderungen, keine Fragen, wir
waren nur ineinander versunken.
„Wenn du willst, können wir uns in Wien treffen,“ und dann war sie weg.
Bis Ostern verblieben noch vier Wochen, dann war Saisonschluss und ich
fuhr nach Wien zurück. Diese vier Wochen zogen sich wie ein Jahr - und
zurück in Wien - wagte ich nicht die von mir sorgsam gehütete
Telefonnummer anzurufen.
Was wusste ich schon von ihr? Für sie war es eine schöne Urlaubswoche,
was war ich für sie? Ein zum Schiurlaub gehörender Service? Nach einer
Woche Wartezeit war ich so weit und rief sie an. Lachend sagte sie: Das
ist ja ein kleines Wunder, der Herr Schilehrer erinnert sich einer
Urlaubsbekanntschaft!“
Die Treffen die diesem Gespräch folgten, überstiegen alles, was ich
jemals über Sex, Liebe oder Zuneigung gelesen und gehört hatte. Meine
bisherige Freundin erschien mir plötzlich ungemein langweilig, ihre
Gespräche ohne Bedeutung und Wert, ihr Körper, den ich bislang als so
wunderbar betrachtet hatte, ohne jegliche Ausstrahlung, und bald danach
trennten sich unsere Wege.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist 19 Uhr und er lebt immer noch. Ich kann
nicht erkennen ob er atmet, aus seinem Mund kommen keine Geräusche mehr.
Vor kurzer Zeit kam wieder eine Schwester ins Zimmer. Sie ist älter als
die vorherige, sie misst seinen Blutdruck, hebt die Decke etwas hoch,
blickt darunter, ein unangenehmer Uringeruch steigt mir in die Nase, sie
richtet den Kopfpolster zupft das Leintuch zurecht, alles Handgriffe,
die sie routinemäßig erledigt.
„Sie sollten sich etwas bewegen, nicht hier eingesperrt sitzen bleiben,
wir haben ihren Vater unter Kontrolle, gehen sie ein wenig auf den Gang
hinaus.“
Ich befolge ihre Anweisung, betrete den Gang und bin im ersten
Augenblick vom Licht geblendet. Es ist noch Tag, und Sonnenlicht dringt
durch die Fenster. Gibt es einen deutlicheren Vergleich zwischen Tag und
Nacht, zwischen Leben und Tod? Hier das zur Neige gehende Sonnenlicht,
dort das verblassende Leben.
Geht so dein Leben zu Ende, frage ich mich, oder wie willst du sterben?
Im Kreis deiner Familie, die fehlt dir, unter deinen Freunden, die dann
sicherlich anderweitig beschäftigt sein werden? Allein im Bett?
Vielleicht doch in einem Altersheim? Dort warten schon die nächsten auf
ein freies Bett. Oder was stellst du dir denn vor? Denkst du dein Gehen
interessiert jemand? Es wird alles weiterlaufen wie bisher, nichts und
niemand wird anhalten.
Ich schaue wieder zu ihm, nehme wieder Platz auf dem Sessel, greife nach
seiner Hand und trotz meines Widerwillens die Größe seiner Hand zu
messen, habe ich nur sie im Blick. Seine Hand ist noch warm. Ist sie das
wirklich, oder bilde ich es mir nur ein? Ich neige meinen Kopf zu seinem
Mund, versuche zu hören, ob er noch atmet, kann jedoch nichts erkennen.
Muss man so die Welt verlassen? Nicht mehr existierend und doch am
Leben, nur mehr ein Haufen von vergehenden Zellen, von denen einige
vielleicht noch um ihr Leben kämpfen und verzweifelt, wie ein
Ertrinkender nach Sauerstoff schreien und sich noch nicht zum Verlöschen
bereit erklären. Es ist grausam das anzusehen. Es zuckt mir der Gedanke
vom sogenannten Gnadenschuss durch den Kopf. Aber den gibt man nur
leidenden Tieren und er leidet ja nicht, wurde mir erklärt. Ich sehe
wieder auf die Uhr. Was will ich denn? Ich will, dass er endlich stirbt,
dass es zu Ende ist! Die Zeiger der Uhr helfen mir dabei nicht. Ich
nehme die Uhr ab und stecke sie in meine Hosentasche. Die Zeit hat ihren
Sinn verloren.
Wir sind nun schon seit zwei Jahren zusammen, Luise und ich und ich
denke sehr oft, wir sind für einander bestimmt, wir gehören zu der
kleinen Gruppe von Menschen, die vom Glück ins Auge gefasst wurden.
Nichts und niemand wird uns in die Quere kommen, wir stehen über all
diesen Dingen.
Mein Vater war nach der Scheidung ausgezogen, es war aber ein eher
schwammiges Verlassen der Wohnung, denn er behielt die Schlüssel, hatte
nicht alle seine Sachen mitgenommen und kam in unregelmäßigen Abständen
vorbei. Meine Mutter hatte die Liaison mit Luise nicht akzeptiert, sagte
sogar einmal zu ihr, ob sie sich denn nicht schäme und das war dann auch
die letzte Konversation.
Ich selbst wusste von Luise nichts, ob sie einen Mann hatte, eher nein,
sagte ich mir, das geht sich zeitlich nicht aus, einen Freund,
vielleicht, aber sicher nicht immer, wo sie arbeitete, nichts war mir
bekannt und es war wie eine stille Abmachung, ich fragte nicht. Ich
wusste nur ihr Alter, das hatte sie mir gesagt. Sie war knapp 20 Jahre
älter. Was ich mit ihr kennenlernen durfte, ist mir heute noch in
lebendiger Erinnerung - es hat sich in meine Ganglien eingefräst.
Körperlich arbeiteten wir das Kamasutra durch, lachten über die
artistischen Verrenkungen und fühlten uns immer wohl, wir gingen in
Konzerte in die Oper, wir hatten ein gesellschaftliches Leben, obwohl
wir alles nur zu zweit erlebten. Und wenn wir glücklich neben einander
lagen, unsere Körper fühlten, dem Takt der Herzen lauschten, fragte ich
sie schon öfter, was sie eigentlich an mir liebe. Sie nahm meine Hand,
führte sie zu ihrem Mund, küsste die Finger, nahm die Hand und strich
über ihre Brüste, über ihren Bauch und zwischen ihre Schenkel, sagte
nichts, drückte nur meine Hand in ihre und nach einer Weile meinte sie
dann:
„Ich denke, es sind deine Hände. Niemals zuvor hat mich jemand so
berührt, niemand mich so elektrisiert, ich bin verrückt nach deinen
Händen“. Da waren meine kleinen Hände wirklich einmal zu etwas gut. Sehr
gut!
Wir hatten einen schönen Nachmittag verbracht, Luise lag nackt neben mir
und rauchte ihre, wie sie immer sagte, postkoitale, Zigarette, als sich
plötzlich die Türe unsres Zimmer öffnete und mein Vater herein trat. Er
schloss zwar sofort wieder die Türe, nur um sie im nächsten Augenblick
wieder aufzureißen und laut brüllend an unser Bett zu stürmen.
„Was ist das, in meinem Haus, das dulde ich nicht, das ist kein Bordell,
keine Absteige“, und mit einem Blick auf Luise, die sich inzwischen
zugedeckt hatte, „und noch dazu mit einer Nutte! Verschwindet sofort,
sonst geschieht noch ein Unglück!“
Ein weiteres Bild drängt sich mir auf. Ich will diesen Gedanken nicht
weiter folgen, aber ich erinnere mich sehr deutlich an ein Ereignis
meiner Kindheit, das völlige Ähnlichkeiten, mit dieser damaligen
Situation hatte. Ich war eines Tages früher von der Schule nach Hause
gekommen, meine Schwestern und meine Mutter waren in der Arbeit und mein
Vater kam üblicherweise nicht vor 6 Uhr abends nach Hause. Ich betrat
die Wohnung und im nächsten Augenblick erschrak ich, denn aus dem
Wohnzimmer hörte ich laute Schreie:
„Nein, nein,..ja doch, nein, ja, komm doch endlich.“
Was war das? Ich schlich in Richtung zum Wohnzimmer, die Türe war offen
und auf dem Fußboden lag mein Vater und raufte mit einer Frau. Er lag
auf ihr und drückte sie zu Boden. Er bringt sie um, dachte ich, wagte
jedoch nicht mich zu rühren. Dann war der Kampf zu Ende und ich erkannte
die Frau, es war unsere Nachbarin, sie hob den Kopf, sah mich und
schrie:
„Du Idiot, ich habe gewusst, es wird Probleme geben.“ Damals wusste ich
nicht, welche Probleme daraus folgen sollten, aber so eine Ahnung, dass
hier etwas Außergewöhnliches geschehen war, blieb mir doch erhalten.
Und weshalb fällt mir diese Angelegenheit gerade jetzt an seinem
Sterbebett ein? Ich erinnere mich, meine Mutter hatte immer unter seinen
Affairen gelitten, immer gab es Streit wegen Liebschaften, die mal
länger mal kürzer andauerten, aber an der Tagesordnung waren. Es fällt
mir deswegen ein, weil sich die Beziehung mit Luise nach seinem Überfall
auf uns sehr rasch geändert hat. Sie hatte immer weniger Zeit für mich,
wir gingen nicht mehr regelmäßig in Konzerte, und obwohl sie wusste, an
welcher Schule ich meinen Dienst versah, kam sie mich nie mehr, so wie
früher abholen. Sie wollte ihre Wohnungsschlüssel zurück, und dann kam
das von mir gefürchtete Abschiedsgespräch.
Es begann schon mit der von mir so verhassten Phrase: „Ich denke, es ist
vernünftiger…“. Was sollte vernünftiger sein, ich wusste es nicht,
damals noch nicht und auch heute will ich es nicht wissen. Wir liebten
uns nochmals, mit einer Intensität, von der wir wussten, es ist das
letzte Mal, und ich wollte mit ihr sterben.
Ich stand vom Bett auf, weinte wie ein kleines Kind, sie zog mich an den
Händen zu sich, streichelte meine Finger und sagte:
„Deine Hände werden mir fehlen“.
Eine weitere Krankenschwester kommt ins Zimmer, führt ihre Arbeiten
durch, man kennt mich inzwischen schon und nimmt meine Anwesenheit gar
nicht mehr zur Kenntnis. Im Weggehen stellt sie mir noch eine Tasse
Kaffee auf einen kleinen Beistelltisch. Ich sehe sie fragend an, aber
sie zuckt nur mit den Schultern. „Er hat eine starke Natur“, sagt sie,
dann bin ich wieder mit ihm allein.
Ich spüre, wie meine Gedanken müde werden, ich will mich nicht mehr an
alles mit ihm und von ihm erinnern. Ja es fällt mir nur Luise ein, und
ich will ihn anschreien, dass er Schuld habe, dass unsere Beziehung zu
Ende ging, dass er sich einmal im Leben schuldig fühlen soll, nachdem er
so viele Seelen zerstört hat, und dass er jetzt endgültig gehen muss. Es
ist kein Platz mehr für zynische Bemerkungen, für Verspottungen, nichts
ist er mehr, nichts bleibt von ihm zurück. Ich ziehe meine Hand aus
seiner großen Hand. Ich stehe auf und bewege mich zu seinem Kopf. Beide
Hände umfassen seinen Hals und ich muss einsehen, sie sind auch dafür zu
klein….
Es ist zwei Uhr morgens, die Nachtschwester weckt mich, ich liege
vorüber geneigt am Fußende seines Bettes, ich erschrecke, ehe ich die
Situation erfasse: „Es ist vorüber, er ist eingeschlafen, er ist erlöst“
flüstert sie. „Es ist besser, sie gehen jetzt; draußen wartet ihre
Mutter.“
Ich schaue nochmals auf meinen Vater, das Neonlicht flackert noch immer,
seine Gesichtszüge haben sich nicht verändert, er hat seine Schuld nicht
eingestanden.
Ich gehe mit der Schwester über den Gang zum Wartezimmer, eine ältere
Frau sitzt allein in der Ecke des Zimmers. Bei meinem Eintritt wendet
sie sich mir zu. Mein Herz will stehen bleiben. Sie ist älter geworden,
aber sie ist es. Und ich umarme sie - Luise.
© Jürgen Latkoczy
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